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Die Sprache des Pogroms ZEIT 2024
Als mir zum ersten Mal sexualisierte Gewalt angedroht wurde, war ich 17. "Sexualisiert" trifft es eigentlich nicht, das lässt selbst die unsäglichen Qualen des 7. Oktober steril erscheinen. Für mich klingt dieses Wort jedenfalls so, als hätte sich das, was ich mit 17 erlebt habe, in einer akademischen Studie abgespielt und nicht auf einer Großbaustelle in Moskau. Die Baustelle war eine riesige Brache, bedeckt mit hellbraunem Schlamm, zerfurcht von den Rädern und Ketten der Baumaschinen. Mittendrin das Gerüst unseres zukünftigen Studentenwohnheims, und in einem Bauwagen daneben wir Erstsemestler. Im sowjetischen Arbeiterstaat fehlten Arbeiter, und die Studenten mussten bei der Ernte oder auf dem Bau aushelfen. So kam ich auf diese Baustelle. Es war der erste Tag des ersten Semesters, und ich konnte es kaum erwarten, endlich Gleichgesinnte zu treffen, mit denen ich Kunst studieren sollte. Was dann auf dieser Baustelle passiert war, daran wollte ich lange nicht mehr denken, sehr lange, bis zum Oktober 2023. weiter...
Keiner fällt den Mördern ins Wort FAS 2024
„Du bist“, sagte einmal Günter Grass zu Celan, „das schlechte Gewissen dieser Leute.“ Das klang fein, aber gleich leugnete Grass, dass es sich um „Nazismus“ handelt. Und natürlich zählte er sich nicht zu „diesen Leuten“. Celan war irritiert, er konnte ja nicht wissen, dass Grass mit 17 der Waffen-SS angehört hatte und mit 84 israelfeindliche Lyrik verfassen würde: ‚Was gesagt werden muss‘. Auch ohne Celans psychiatrische Diagnosen würde man mit solchen Unterstützern den Verstand verlieren. weiter...
Als ich Juden nicht riechen konnte NZZ 2023
Über den Antisemitismus von Josef Stalin, Judith Butler, Greta Thunberg und mir. Der Antisemitismus ist wie eine russische Puppe: Innen Mord, aussen Gerücht und darüber noch eine Schale, die Verharmlosung. Die Geschichte meines Wegs zur jüdischen Sorge meines Vaters. weiter...
Liebes Russland FAS 2023
Als Russe wird man mit Gewalt gestopft, überfüttert wie eine französische Gans mit Mais und Schweineschmalz. So entsteht eine Delikatesse, die Foie gras für Russlandliebhaber, die russische Literatur. Wenn ich zurückblicke, sehe ich lauter gebrochene Autorenschicksale. Eine Kugel am Ende des Lebens oder der Strang, Lager, Zwangsernährung oder Hunger oder, wie der Dichter Alexander Blok schrieb: „Mich hat mein verfilztes, stammelndes, geliebtes Mütterchen Russland gefressen wie die Muttersau ihr Ferkel“. weiter...
Fremdsprachenstunde für Friedenstauben NZZ 2023
Ich schaue vom Rand einer Grube auf hineingeworfene Leichen, und ich frage mich, ob der junge Mann, der nur einen Gummistiefel trägt, gegen die russische Armee gekämpft hat und ob die Frau neben ihm wirklich Zivilistin war. Trainingshosen, alte Socken, bunte Kopftücher. Die Grube liegt irgendwo in Grosny, es ist Februar 1995, zwischen halbzerstörten Wohnblocks ist niemand zu sehen, die Russen schiessen auf Passanten. Neben der Grube sehe ich mehr Tote, es stinkt, und heute bin ich angewidert von mir selbst, wie ich da stehe und mich nicht auch mitgestorben, miterschossen fühle. weiter...
Rettet Russland NZZ 2023
Ohne einen Bruch mit sich selbst kann in Russland nur das entstehen, was nach allen historischen Umbrüchen, Revolutionen und Restaurationen immer wieder auferstanden ist: ein mörderisches Wir. weiter...
STOLPERWORTE Literaturlesungen an den Stolpersteinen 2022
Autorinnen und Autoren suchen in ihren Texten, die sie auf den Stolpersteinen vortragen, einen persönlichen Zugang zur NS-Vergangenheit. Wie erscheint diese Erinnerung im Schlaglicht eines Krieges, der schon jetzt in die Vergessenheit abzurutschen droht? weiter...
Meinst du, die Russen wollen Krieg? NZZ 2014, 2023
1974 starb ein Mann, der wohl mehr Menschen in den Tod geschickt hat als jeder andere Russe im Jahrhundert des massenhaften Tötens. Er wird heute als Retter des Vaterlands und genialer Heerführer verehrt – der Eroberer Berlins und Marschall der Sowjetunion, Georgi Schukow. mehr...
Die russische Schuld FAS 2022
Bevor Russland die Ukraine überfiel, schrieb ich ein Buch über Paul Celan. Seitdem kann ich nur noch eins: verfolgen, wie sich die Ukrainer wehren, auf dem Schlachtfeld und in den sozialen Netzwerken. Gleich in der ersten Kriegswoche fiel mir etwas auf, was auch schon Celan erlebt hatte. Das werde ich hier aufschreiben. weiter...
Evakuiert Stolperworte 2021
Mein Vater, der nicht mein Vater ist, er ist erst vier, steht an der Reling eines Passagierschiffes und weint. Ein Windstoß hat ihm gerade die Mütze vom Kopf gerissen und über Bord geworfen. Es ist ein Schiffchen, grün und mit roter Quaste, das auf Russisch Pilotka heißt und nichts mit diesem kleinen Binnenschiff zu tun hat, das gestern den Moskauer Flussbahnhof verließ und immer weiter nach Südosten fährt, auf der Moskwa und Oka und Wolga und Kama in den Ural oder in die Evakuazija, wie man in diesem Juli 1941 sagt, um nicht zu sagen, in die Flucht. weiter...
STOLPERWORTE Literaturlesungen an den Stolpersteinen 2021
Autorinnen und Autoren suchen in ihren Texten, die sie auf den Stolpersteinen vortragen, einen persönlichen Zugang zur NS-Vergangenheit. Ist die Geschichte für sie noch gegenwärtig? Aus welcher Richtung nähern sie sich ihr in ihren Texten? Wie können sie, wie können wir heute in unserem Alltag, in unserer Sprache eine Brücke zu dieser Zeit und ihren Opfern schlagen? weiter...
Der Mut der Verzweiflung Deutschlandfunk Kultur 2018
Unsere Wohnung wurde nie von Behörden durchsucht, obwohl meine Eltern das nicht ohne Grund befürchtet hatten. Der Einzige, der dort Hausdurchsuchungen vornahm, war ich selbst. Ich kam nach der Schule allein nach Hause und statt meine Hausaufgaben zu machen, durchstöberte ich aus Langeweile und Neugier die Sachen meiner Eltern. Einmal fand ich in Vaters Bücherschrank Patronen für ein Kalaschnikow-Maschinengewehr. weiter...
Boris' Traum Deutschlandfunk Kultur 2017
Damals hatte Boris Schumatsky bereits geahnt, dass er selbst bald verschwinden würde. Er bat seine Tochter, ihren neugeborenen Sohn nach ihm zu nennen, damit zumindest sein Name weiter lebt. Das war mein Vater, der auch mich Boris Schumatsky nannte. Ich glaube, ich bin der letzte Boris Schumatsky in dieser Geschichte, und es ist nun an mir, einen Punkt zu setzen. weiter...
Mein Feind, die Revolution ZEIT 2015
Es gibt viele Gründe, eine Revolution abzulehnen. Man kann zu konservativ, zu bodenständig oder einfach zu alt dafür sein. Was ich mir aber bisher nicht vorstellen konnte, ist, dass man zu links für eine Revolution sein kann. Vor einem Jahr hing ich tagaus, tagein vorm Bildschirm, auf dem in Echtzeit Videos aus Kiew liefen. Als es dort immer kälter wurde, gingen jeden Tag weniger Menschen auf die Straße, und irgendwann protestierte nur ein Häufchen frierender Studenten gegen das Regime, das ihre Mündigkeit geraubt hatte. Dann schlug die Polizei zu. weiter...