Boris' Traum
Das ist die Geschichte meines Urgroßvaters, die ich fürs Ohr geschrieben und zum Teil selber gesprochen habe.
Regie: Giuseppe Maio
Erzähler: Alexander Ebeert
© Deutschlandfunk Kultur, 2017
Teil I
Ein jüdischer Buchbinder kommt auf die Polizeiwache. "Euer Wohlgeboren", sagt der Jude zum Wachtmeister, "schickt mich nicht weg aus Petersburg. Mit meinem Beruf kann ich nur in der Stadt arbeiten". – "Du willst in einer Stadt bleiben?" sagt der Wachtmeister, "sicher, wir werden eine für dich finden". Und er schickt den Mann samt Familie nach Sibirien, 6.000 Kilometer von St. Petersburg entfernt.
So beginnt meine Familiengeschichte, die so oft von Generation zu Generation erzählt wurde, dass sie jetzt wie ein jüdischer Witz klingt. Familiengeschichten klingen oft wie Witze, auch die, in denen es wenig zu lachen gibt. Boris, der Sohn des Buchbinders, kommt 1886 in Sibirien zur Welt. Noch vor seiner Geburt hat er erlebt, was seinesgleichen vom Zarenreich erwarten darf. Boris hat vier Geschwister, er muss früh für die Familie sorgen und geht mit zwölf arbeiten. Er arbeitet fast zwölf Stunden am Tag und natürlich träumt er von einem besseren Leben. Das tun viele, damals wie heute, aber dieser Boris gehört zu den sehr wenigen, denen es gelingt, dass aus ihren Träumen Wirklichkeit wird.
Hätte der Wachtmeister damals die Bitte des kleinen Buchbinders erhört, wäre die Revolution in Sibirien bestimmt anders verlaufen, vielleicht auch in ganz Russland, und ich würde dann einen anderen Namen tragen. Ich heiße Boris Schumatsky wie mein Vater, und er wurde wiederum nach seinem Großvater genannt, der einst in Sibirien von Freiheit geträumt hatte. Dieser Boris, der Sohn des Buchbinders, war mein Urgroßvater. Später, nach dem Sieg der Oktoberrevolution, wurde er Leiter der sowjetischen Filmbranche. In einem der vielen Revolutionsfilme, die unter der Obhut meines Urgroßvaters entstanden sind, hätte sich das Gespräch zwischen seinem Vater und dem Wachtmeister ungefähr so abgespielt: Ein fettleibiger Gendarm in schneeweißer Uniform und mit riesigem Schnurrbart, vor ihm ein hilfloser jüdischer Druckereiarbeiter, der seine Mütze an den Bauch drückt. Er fleht den Ordnungshüter an, ihn nicht wegzuschicken, aber der große Mann haut mit der Faust auf den Tisch: "Ihr Jidden habt unser Väterchen Zar ermordet, jetzt raus mit dir!"
Wenige Monate zuvor, im März 1881, hatten revolutionäre Terroristen Zar Alexander II. ermordet. Die Obrigkeit hielt damals Terroristen für Juden und Juden für Terroristen, also wurden die Juden aus der Hauptstadt in die ländlichen Westgebiete des Zarenreiches umgesiedelt. Eineige, wie den Buchbinder, schickte man aber nach Osten, in Sibirien. Boris Schumatsky, der in St. Petersburg vielleicht aufs Gymnasium gegangen wäre, wurde in Sibirien Hilfsarbeiter und später Bolschewik. Einer von denen, die 1917 die Macht im Land übernahmen, um eine neues Land aufzubauen – ein Land, in dem er selbst in verschiedene leitende Positionen aufstieg, bis ihm schließlich die Filmproduktion anvertraut wurde. Schumatsky betreute die meisten Filme persönlich, einmal kam ihm dieses sehr besondere Drehbuch in die Hände.
"Wo ist diese Straße, wo ist das Haus, wo ist dieses Fräulein, das ich liebe?" singt am Anfang des Films der junge Fabrikarbeiter Maxim, der bald Revolutionskämpfer und später sogar sowjetischer Minister wird. Als Boris Schumatsky das Drehbuch las, muss er sich darin wieder erkannt haben: Maxim wird schon in seiner frühen Jugend Bolschewik wie Boris selbst. Der Filmregisseur, Grigori Kosinzew, war zu jung, um sich an diese Zeit zu erinnern. Er ließ sich vom seinem Chef, dem Filmminister Schumatsky, viele Details über seine revolutionäre Jugend erzählen. Der Film erschien 1935 und war ein großer Erfolg. Es war eine Kurzbiographie der russischen Revolution. Mein Urgroßvater schrieb: "Wer von uns alten Bolschewiken empfand nicht diesen scharfen Hass auf den Kapitalismus und die Selbstherrschaft, wer erlebte nicht wieder den eigenen Weg in die Revolution, als er "Maxims Jugend" sah!"
Der Film beginnt an einem Morgen in einem der Arbeitervororte, wo auch Boris Schumatsky aufwuchs. Wäsche hängt quer durch den Hof, Hühner laufen frei herum, überall liegt Dreck. Darüber qualmende Schornsteine. Eine Fabriksirene ruft schon, aber Maxim singt noch sein Lied zu Ende. Als ich "Maxims Jugend" in meiner sowjetischen Schulzeit sah, in den 1970er Jahren, war mir und den anderen Kindern klar, was der Film wollte: Uns glauben lassen, dass es beim Zaren so viel schlimmer als heute war. Geldgierige Kapitalisten, prügelnde Gendarmen, unterdrückte Arbeiter.
Ein Arbeitsunfall, ein junger Arbeiter liegt auf der Trage, mit Stofffetzen zugedeckt. Bald wird er sterben. Das sei aber halb so schlimm, sagt sein Vormann. Wenn ich heute die Memoiren meines Urgroßvaters lese, kommt mir dieser Film nicht sehr übertrieben vor. Boris war in einem Staat aufgewachsen, in dem ein 11,5-Stunden-Tag üblich war, in dem Gewerkschaften und Streiks fast als staatsfeindliche Verschwörungen geahndet wurden. Und dennoch forderten mein 16-jähriger Urgroßvater und seine Kollegen bei ihrem ersten Protest im Jahr 1903 "einen höflichen Umgang mit Angestellten und Arbeitern, einschließlich Jugendlichen, sowie das Verbot von Prügel und die Anrede mit Sie". Schlimmer als die Ausbeutung war die Entwürdigung. Später schrieb Boris:
Handgreiflichkeiten waren allgegenwärtig. Nicht nur Besitzer, Geschäftsinhaber und ihre Handlanger prügelten. Auch Angestellte, die von ihren Dienstherren selbst misshandelt wurden, prügelten diejenigen, die ihnen unterstellt waren, die Minderjährigen und die Schwächeren. Das ist die Psychologie der Knechtschaft.
Es war der Traum von Menschenwürde, der Boris 1903 in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei der russischen Marxisten führte. Wladimir Iljitsch Lenin hatte dort gerade seine eigene Fraktion der Bolschewiki gebildet. Boris mietete damals im sibirischen Krasnojarsk ein kleines, schmales Zimmer, mit einem Metallbett ohne Matratze. Er schlief auf Holzbrettern. Später erinnerte sich Boris, dass ihm seine Oberbekleidung das Bett und die Decke ersetzte. Das ist wahrscheinlich so zu verstehen, dass er auf seiner Kleidung wie auf der Matratze schlief und sich mit der Arbeiterjacke zudeckte.
1905 gab es in Russland einen revolutionären Aufstand, der erst zwei Jahre später niedergeschlagen wurde. Am Vorabend dieser ersten russischen Revolution war Boris Schumatsky kein frisches Parteimitglied mehr, aber ein Berufsrevolutionär war er damals noch nicht. Manchmal versteckte er in seiner Kammer den einen oder anderen Untergrundkämpfer, der auf der Flucht vor der Geheimpolizei war. Einer von ihnen war bei meinem Urgroßvater vermutlich besonders willkommen, weil er, wie sich Boris später erinnerte, einen dicken Pelzmantel besaß. In sibirischen Winternächten, als der Wind durch die Wandritzen zog, deckten sich der Gastgeber und sein Gast mit diesem Mantel zu. Die Berufsrevolutionäre sind für den jungen Boris Wesen aus einer anderen Welt. Vielleicht aus der, von der er träumt. Einmal kommt Boris von der Arbeit heim, und in seinem Zimmer sieht er zwei Professionaly, den mit dem Pelzmantel und einen neuen professionellen Revolutionär, der einen Zwicker aufhat. Boris bleibt verlegen in der Tür neben dem Waschbecken stehen, und versucht, das Maschinenöl abzuwaschen.
„Willst du etwa die Hände so lange reiben, bis du ein Loch in der Hand hast, Boris? Komm, du bist doch hier der Gastgeber“, scherzt der Pelzmantel. Der mit dem Zwicker wird später der erste Chef der sowjetischen Geheimpolizei in Petrograd werden, aber jetzt trinken sie in Boris' Kammer friedlich Tee aus dem Samowar, den Boris bei den Vermietern holt. Sein neuer Gast ist klein, und während die Untergrundkämpfer über Parteiinterna reden, beobachtet Boris den neuen Berufsrevolutionär mit dem Zwicker, der trotz geringer Körpergröße mit großer Wucht redet. Boris fragt sich, ob es da eine Verbindung geben könnte, je kleiner die Statur, desto höher die Stellung in der Partei. Diese Beobachtung wird er zwei Jahrzehnte später in seinen Memoiren "Im sibirischen Untergrund" aufschreiben. Einfachheitshalber zählt Boris in seinem Buch nur die Ausnahmen aus dieser Regel auf, weil er inzwischen noch mehr kleinwüchsige Führer kennengelernt hat, auch Lenin und Stalin.
Die erste russische Revolution beginnt mit einem Streik und gipfelt in einem Aufstand. So fängt auch der Film "Maxims Jugend" an, Streik, Demonstration, dann Barrikaden. Am Allgemeinen Streik nehmen 1905 zwei Millionen Menschen in Russland teil, so viele wie noch nirgendwo auf der Welt. Boris Schumatsky ist auch dabei. Der Arbeiterumzug trifft auf eine Polizeisperre. Berittene Kosaken überfallen die Demonstranten. Die Kosaken sind treue Truppen des Regimes, die Wasserwerfer der Zarenzeit. Keine Schüsse fallen, aber die Kosaken rammen die Menschen mit ihren Pferden, prügeln mit Peitschen auf sie ein, die Arbeiter fliehen.
"Halt! Wir haben keinen Ort, an den wir fliehen können!" ruft Maxim. Dann wirft er, wie Boris es damals auch getan hat, verbotene Flugblätter in die Menge.
"Streikt, Genossen, streikt!" ruft eine Revolutionärin, bevor die Polizei sie alle abführt. Es erscheint eine schwarze Filmtafel, die sagt: Nun kommt Maxim auf die Uni. Gemeint ist das Gefängnis, in dem Neulinge von erfahrenen Kämpfern in die Theorie und Praxis eines Aufstands eingeweiht wurden.
Die Revolutionärin, die im Film zum Streik aufruft, ist eine gebildete junge Frau, eine Lehrerin. Wie es sich für eine gute Filmstory gehört, werden sie und Maxim ein Paar. Mich gäbe es nicht, wenn auch Boris nicht eine solche Frau getroffen hätte. Aber davor musste er selbst Berufsrevolutionär werden. Boris lernt die Revolution nicht im Gefängnis wie Maxim, er wird beim Tee von den beiden kleinwüchsigen Parteifunktionären eingewiesen. Er erfährt, dass die Revolutionsarbeit in Wirklichkeit nicht ganz so heroisch ist wie später in "Maxims Jugend" dargestellt. Man machte Revolution nicht mit den Fäusten, man machte sie mit der Zunge.
Nicht allein das unzensierte geschriebene Wort war unter dem Zaren verboten, untersagt war auch die freie Rede. Versammlungen waren verboten, man traf sich in konspirativen Wohnungen oder auf Waldwiesen, und dort redete und redete und redete man. Abends studierte der Zwickerträger mit Boris das "Kommunistische Manifest" und "Das Elend der Philosophie" von Karl Marx. Boris, der nie zur Schule ging, musste lernen, mit dem Wort umzugehen. Denn sonst hätte er seinen Traum nicht verwirklichen können. Also lernte Boris so fleißig, dass er später sogar selbst Bücher schreiben konnte. Aber insgeheim sehnte sich der junge Sozialdemokrat nach Taten.
Wenn die Revolution dann endlich zur Tat schreitet, schwelgt Boris im Hochgefühl der Freiheit und der Liebe. Er hatte seine Revoluzzerin getroffen. Dezember 1905, Russland streikt und baut Barrikaden. Im Eisenbahndepot von Krasnojarsk, wo Boris Schumatsky arbeitet, verbarrikadieren sich die Aufständischen, Arbeiter, Soldaten, auch Gymnasiastinnen. Lija hat sie mitgebracht. Lija ist Sozialdemokratin wie Boris. Ihre Mitschülerinnen und sie sind für Medikamente und Verbandmaterial zuständig, Boris organisiert Waffen. Wenn er später über diese Zeit schreibt, klingen seine Erinnerungen wie ein Liebesroman. Auch wenn es nur darum geht, wie Waffen durch die Stadt auf Pferdeschlitten gefahren werden. Boris beschreibt das so:
Die Stadt schlief. Nur selten erschien kurz die Gestalt eines zufälligen Passanten. Frostig war die Nacht, mondlos und finster. Es fielen pelzige Schneeflocken. Wir machten uns Sorgen, weil schlecht verstaute Gewehre immer wieder mit metallenem Klirren vom Schlitten rutschten und in den Schnee fielen.
Pelzige Schneeflocken. Später wird Boris solche Stilblüten als spießig ablehnen, in der Erinnerung aber scheint ihn das Glück dieser Dezembertage überwältigt zu haben. Seine Liebe und seine erste, seine glücklichste Revolution. Das Eisenbahndepot von Krasnojarsk ist von Regierungstruppen belagert. Es ist die Neujahrsnacht. Arbeiterfrauen und Lijas Gymnasiastinnen haben gebacken. Ein alter Revolutionär, der noch im vergangen Jahrhundert gekämpft und nach Sibirien verbannt wurde, hält eine Ansprache: „Endlich ist mein Traum Wirklichkeit geworden. Ich stehe auf den Barrikaden mit der Waffe in der Hand, mitten im Volksaufstand. Mit mir sind hier meine Tochter und ihr Mann. Das ist alles was ich im Leben habe, und ich opfere das dem Kampf für die Freiheit. Mir reicht's, ich kann nicht länger wie ein Hund leben!“ Aber Boris träumt nicht vom Kampf, sondern von einer neuen Welt, und sein Traum ist noch lange nicht erfüllt. Aus Familienüberlieferungen weiß ich, dass Lija, die meine Urgroßmutter werden sollte, und Boris sich in dieser Nacht das Jawort gaben. Boris erwähnt das in seinen Memoiren mit keinem Wort, wie es sich für einen selbstlosen Untergrundkämpfer gehört. Sie hatten auch keine Muße für umständliche Liebesanträge. Der Beschuss der Regierungstruppen war so stark, dass sich die geschossenen Kugeln in den Ecken des Depots zu kleinen Häufchen ansammelten.
„Heißt das, wir sind zusammen?“
„Klar sind wir zusammen“, antwortete Lija.
So seien die beiden ein Paar geworden, erfuhr ich von meinen Verwandten. Die Aufständischen hatten bereits beschlossen, die belagerte Depot-Halle zu verminen, erinnert sich Boris später: "Das war die Entschlossenheit der Verzweifelten, weil wir geplant hatten, die Soldaten in die Halle zu locken und dann alles hier zu sprengen. Leider wurden die Sprengätze von einem Brand in unserem Labor vernichtet". Sonst wären Lija und Boris gestorben. Aber die Aufständischen ergaben sich, meine Urgroßeltern kamen ins Gefängnis. In "Maxims Jugend" wird das Zarengefängnis wie eine Universität der Revolution dargestellt, aber in Wirklichkeit war sie die Vorstufe zum Tod. Häftlinge werden verprügelt, und im Morgengrauen schauen sie durch vergitterte Fenster zu, wie ihre Kameraden zur Hinrichtung abgeführt werden. Sie stimmen das verbotene Protestlied Warschawjanka an.
Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte,
drohende Wolken verdunkeln das Licht.
Mag uns auch Schmerz und Tod nun erwarten,
gegen die Feinde ruft auf uns die Pflicht.
Als ich in die Schule ging, mussten wir dieses Lied singen, und ich habe nur stumm die Lippen bewegt. Warschawjanka war noch schlimmer als andere Parteilieder, weil man die alte Sprache nicht verstand.
Elend und Hunger verderben uns alle,
gegen die Feinde ruft mahnend die Not –
Ich war mir nicht sicher, was ist diese “malende Note”, und was genau ruft sie? Aber so wichtig, um die Lehrerin zu fragen, war mir dieses Lied nicht.
Freiheit und Glück für die Menschheit erstreiten!
Kämpfende Jugend erschreckt nicht der Tod.
Boris' Tochter, meine Oma, hat dieses Lied auch für mich gesungen, weil sie keine Kinderlieder kannte. Eigentlich konnte die Oma überhaupt nicht singen. Aber sie hatte die Revolution als Kind erlebt, und in ihrer brüchigen Stimme klang noch das Pathos des Freiheitskampfes unverfälscht. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie manchmal Tränen in den Augen hatte. Wenn ich dieses Lied, das in einem Zarengefängnis geschrieben wurde, heute höre, geht es mir fast auch so.
Nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 werden Tausende Aufständische erhängt oder erschossen. Lija und Boris warten auf ihr Urteil. Die Gymnasiastin, die aus einer wohlhabenden Familie stammt, wird gegen Kaution entlassen, dem jungen Revolutionär droht der Galgen. Das alte Stadtgefängnis von Krasnojarsk war brechend voll. Die politischen Häftlinge hielten zusammen, sie wollten unbedingt etwas für die Kameraden, die in Todesgefahr schwebten, tun. Gleich am ersten Tag zog Boris Schumatsky die locker gewordenen Schrauben aus der Tür seiner Zelle, so dass man sie nicht mehr abschließen konnte. Jetzt konnte ihm die Untergrundorganisation der politischen Häftlinge helfen. Es gab nicht genug Gefängniskleidung für alle, aber für Schumatsky besorgte man eine alte Arrestantenmontur. Er zog sie über seine Zivilkleidung, und so unterschied er sich nicht mehr von jenen Häftlingen, die schon lange wegen schwerer Verbrechen einsaßen. Die Gefängnisleitung setzte volles Vertrauen in Mörder und Diebe und überließ ihnen das Austragen des Essens. Schumatsky nahm sich einen leeren Topf und ging durch die Küche zum Nebeneingang. Dort legte er die Gefängniskleidung ab, mischte sich unter die Lieferanten und war verschwunden. Am selben Tag tauchten Lija und Boris ab, und seitdem trennten sie sich nur, wenn Boris wieder verhaftet oder als Soldat eingezogen wurde. Dann kam das Jahr 1917, sie kämpften wieder zusammen.
Die erste russische Revolution hatte das Zarenreich wenig verändert. Die vom Regime zugelassene Staatsduma war nur ein Scheinparlament. Die republikanischen Kräfte im Russischen Reich stritten sich darüber, wer schuld an der Niederlage war und was nun zu tun sei. An den Wahlen zum Scheinparlament teilnehmen? Bombenanschläge auf Beamte verüben? Die Arbeiterklasse bewaffnen? Erbitterte Fraktionskriege wurden darüber geführt. Lenin griff andere Sozialdemokraten so heftig an, als seien sie noch schlimmere Feinde als der Zar. Weil Lenin sicher war, das Erfolgsrezept zu haben. Und er hatte tatsächlich eins.
Die Taktik der Revolution nahmen wir bereits in meiner Grundschulzeit durch. Aber natürlich wollte man uns nicht beibringen, wie man Revolution wirklich macht. Stattdessen lernten wir den revolutionären Kampf so, wie er in Spielfilmen über Maxim dargestellt wurde.
Arbeiter auf Barrikaden, hauptsächlich mit Pflastersteinen bewaffnet, leisten Widerstand gegen reguläre Truppen mit Feldkanonen. Ein Offizier in weißer Uniform ruft: „Ich befehle, die Straße unverzüglich zu räumen. Sonst schießen wir!“ Das riefen wir auch, als wir Räuber und Gendarm spielten. Maxim und seine Kameraden im Film machen Revolution, als wäre sie ein Spiel, sie stimmen die Internationale an. So wurde die russische Revolution sieben Jahrzehnte lang dargestellt, jeder Sowjetmensch kannte diesen Spruch: Pflastersteine sind die Waffen des Proletariats!
Als wäre es das Geheimrezept der Revolution. Mein Urgroßvater hat als Chef der sowjetischen Filmbehörde sehr zu diesem kindischen Bild beigetragen, das in allen Revolutionsfilmen von Sergej Eisenstein bis Michail Romm gezeichnet wurde. Bestimmt tat er das wider besseres Wissen. Man vergisst doch nicht, wie man eine Revolution gemacht hat. Das, was vor allem nötig war, hatte der richtige Revolutionär immer dabei – seine Stimme.
Es gibt keine Tonaufnahmen von ihren Reden aus der Zeit, aber man kann heute die Stimme Lenins hören, aufgezeichnet auf einer Schellackplatte zwei Jahre nach der Oktoberrevolution. Eine Ansprache an Soldaten, ganz nach erprobtem Erfolgsrezept: Macht bekommt der, der mehr Soldaten überzeugt. Man sagte dazu agitieren, und Marxismus hin oder her: wer ein besserer Agitator war, der gewann.
Der Berufsrevolutionär Boris Schumatsky lebte im Untergrund und wurde von der Ochrana als Agitator gesucht. Die Geheimpolizei kannte nicht einmal seinen Namen, ihre Akten können wenig über seine Arbeit vor der Oktoberrevolution erzählen. Ein Zeitzeuge erinnert sich später an die Agitationskünste meines Urgroßvaters:
Aus Krasnojarsk sind zu unserem Kongress Akulow und Boris Schumatsky gekommen. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den ihre Reden auf mich gemacht haben. Sie sprachen mit solcher Wut, mit solcher Selbstvergessenheit, als erstürmten sie gerade eine uneinnehmbare Festung. Sie schrien wie besessen, sie waren in Schweiß gebadet, sie drohten den Feinden der Revolution mit Fäusten. Diese Art zu reden, diese Siegessicherheit hatte einen enormen psychologischen Effekt auf die Soldaten, die in ihren Kasernen agitiert wurden. Die Bolschewiki steckten sie regelrecht an mit ihrem fanatischen Glauben an den Sieg einer neuen Revolution.
Nun war Revolution kein Traum mehr, Revolution war Agitation. Es wurde von Freiheit gesprochen, von Gerechtigkeit, aber es ging vor allem darum, wie viele "Bajonette" man auf seine Seite zog.
Bevor 1917 eine neue Revolution ausbricht, wird Boris Schumatsky, wie auch der junge Maxim aus dem Film, in den Ersten Weltkrieg geschickt. Aber Maxim ist kein idealistischer Jugendlicher mehr. Er steckt seinen Kameraden noch im Zug, der sie an die Front bringt, unbemerkt Flugblätter zu, zeigt ihnen aber nicht sein wahres Gesicht des Untergrundkämpfers, nein, er ist nur ein guter Kumpel. Maxim singt sein Lied, Soldaten lesen das Flugblatt. Der Bolschewik hat für seine Partei ein Dutzend Bajonette organisiert.
Wer noch an eine friedliche Revolution glaubt, ist nun ein Renegat. Etwa der deutsche Sozialdemokrat Karl Kautsky. Noch wenige Jahre zuvor hatte man seine Werke mit Begeisterung gelesen. Auch Schumatsky las in seinem kalten Zimmerchen von einem traumhaften Leben, das gleich nach der Revolution beginnen sollte. Das Buch hieß "Am Tage nach der sozialen Revolution".
Es ist durchaus nicht phantastisch anzunehmen, dass sofort eine Verdoppelung der Löhne bei Reduzierung der Arbeitszeit auf die Hälfte der heutigen möglich ist.
Im Februar 1917 gehen wieder Hunderttausende auf die Straße, der Zar dankt ab, eine Konstituierende Versammlung soll gewählt werden. Ist das schon der Sieg einer neuen schönen Welt? Die Bolschewiki kennen einen schnelleren Weg dorthin: es soll der siegen, der mehr "Bajonette" hat.
Russische Soldaten sterben noch im Ersten Weltkrieg, den keiner will, den die Bolschewiki als einen "imperialistischen Krieg" bezeichnen. Lenin prägte schon beim Kriegsbeginn die Losung: "Den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umwandeln!" Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, die Russland eine republikanische Verfassung geben soll, verfehlen die Bolschewiki die Mehrheit. Aber sie haben mehr "Bajonette", und im Herbst 1917 ergreifen sie die Macht. Der Bürgerkrieg beginnt. In Sibirien organisiert Boris Schumatsky einen Aufmarsch unter der Losung "Es lebe der Bürgerkrieg!". Aber manch ein Bolschewik ist entsetzt über die Tausende von Toten, über die "animalische Wut", über zerstörte Straßenzüge. Lenin beschwichtigt:
Wie könnt ihr nur an Gebäude denken, wenn es darum geht, einer Gesellschaftsordnung die Türen zu öffnen, die Schönheit erschaffen kann, die alles übertreffen wird, wovon man in der Vergangenheit nur träumen konnte?
Auch mein Urgroßvater verlegt die Erfüllung seines Traums in die unbestimmte Zukunft. Jetzt agitiert Boris Soldaten, schickt Truppen gegen politische Opponenten und erkämpft schließlich den Sieg in ganz Sibirien. In Irkutsk, wo er seine Sowjetregierung installiert, sind Hunderte Kämpfer aus jeder Bürgerkriegspartei gestorben, Leichen von Zivilisten treiben den Fluss Angará hinunter, der durch die Stadt fließt. Doch der glückliche Tag danach will nicht kommen. Ein Jahr nach der Oktoberrevolution schrieb mein Urgroßvater einen Brief an Lenin und andere führende Bolschewiki. Ich habe diesen Brief, der mit Bleistift auf mehreren unterschiedlichen, linierten und unlinierten Blättern Papier geschrieben ist, im ehemaligen Parteiarchiv in Moskau gefunden. Es ist der bewegendste Text, den ich von meinem Urgroßvater gelesen habe.
Liebe Genossen und Lehrer, Lieber Iljitsch und alle anderen Freunde, ich beschwöre euch, unseren Vorschlag anzunehmen, denn sonst erwartet zuerst uns und dann Euch ein sicherer Tod. Es ist ein Verbrechen, einen Bürgerkrieg gegen andere Sozialisten, gegen andere Republikaner zu führen und damit der wahren Konterrevolution zum Sieg zu verhelfen...
Die Lage hier in Sibirien ist grausam, 99 Prozent unserer Genossen sind ermordet, und es bleibt nur noch eine Hoffnung, die Hoffnung auf einen Frieden mit den rechten Sozialisten.
Wir glauben, dass unsere Stimme, die aus den Wäldern und von den Bergen, aus der unermesslichen Tundra zu Euch ruft, endlich erhört wird, auch wenn wir selbst schon ins Jenseits befördert sein werden.
Boris´ Stimme wurde nicht erhört. Trotzki, Lenin und Stalin zogen ihre harte Linie durch, es herrschte jahrelanger Bürgerkrieg, ihm folgte die Alleinherrschaft der Partei, die sogenannte Diktatur des Proletariats. Historiker streiten heute noch darüber, wie lange der Bürgerkrieg dauerte - drei Jahre, fünf Jahre? War dieser Krieg erst zu Ende, als die Parteidiktatur schließlich 1991 zusammenbrach? Die Oktoberrevolution in Petrograd bezeichneten die Bolschewiki lange als Pereworot, Umwälzung. Mein Urgroßvater hatte diese Machtergreifung in den Monaten davor vorbereitet. Zusammen mit Stalin und anderen Bolschewiki aus der zweiten Reihe gab Schumatsky die Parteizeitung heraus, das so genannte Zentralorgan.
"Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator", sagte Lenin. Während die Oktoberumwälzung propagiert und organisiert wurde, zerstritt sich mein Urgroßvater mit Stalin und fuhr nach Sibirien zurück. Seiner Frau erzählte Boris, er wollte es nicht länger ertragen, wie Stalin seine Mitarbeiter schikanierte. Später sprach er stets von einer Oktoberumwälzung, obwohl sie bereits offiziell zu der Revolution verklärt wurde.
Eine Abteilung Rotarmisten erstürmt den Winterpalast, dann verkündet Lenin die Sowjetmacht. Schnell und schmerzlos war die Oktoberrevolution, man hat mehr geklatscht als geschossen und alle waren glücklich. So habe ich das als sowjetisches Kind gelernt. Später zeigten sie uns im Geschichtsunterricht den Spielfilm "Lenin im Oktober", einen der letzten, die unter der Obhut meines Urgroßvaters gedreht wurden. Alle kannten wir Lenins berühmten Satz aus dem Finale des Films: "Genossen! Die Arbeiter- und Bauernrevolution, von deren Notwendigkeit die Bolschewiki stets geredet haben, ist vollbracht!"
Die Massen jubeln zwei Filmminuten lang vor diesem Spruch und danach bis zum Ende des Films. In meiner Schulzeit machte man aus Lenins Satz einen Witz, den man mit Lenins schnarrendem R erzählen sollte: "Genossen! Die Revolution ist vorbei, und nun beginnt die Diskothek!"
"Hier wird getanzt, und hier wird man immer tanzen", das schrieben die Franzosen nach ihrer Revolution auf den Ruinen der Bastille. Russland musste nach seiner Revolution noch 74 Sowjetjahre auf die seine Diskothek warten, und eigentlich hat diese auch heute noch nicht begonnen.
"Lenin im Oktober" endet mit einer Szene, in der die historischen Ereignisse etwas umgekrempelt werden. Es ist nicht einmal eine richtige Szene, fast nur ein Bild. Nachdem Lenin seinen berühmten Spruch sagen darf und die Handlung eigentlich abgeschlossen ist, erscheint hinter dem Rücken des Revolutionsführers ein junger schwarzhaariger Bolschewik mit großem Schnurrbart. Das ist Josef Stalin. Natürlich hatte Stalin 1917 diese hohe Position noch nicht inne. Aber 1937, als der Film gedreht wurde, erlaubte ihm seine Position, selbst die Geschichte neu zu schreiben. Während sich Lenin im Film bejubeln lässt, schaut der junge Stalin prüfend in den Saal, als wollte er sich alle merken, die nicht begeistert genug klatschen. Es ist als streift Stalins Blick auch die Filmzuschauer. Dann erscheint ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. Er hat sich jemanden gemerkt.
Teil II
Ein Bauer samt Frau und Tochter fährt in die Hauptstadt der UdSSR, 6.000 Kilometer aus Sibirien nach Moskau. Sie wollen einen Verwandten besuchen, der ein wichtiger Mann ist und im Haus der Regierung neben dem Kreml wohnt. Die Bauern sind enteignet worden, ihnen droht Deportation, sie brauchen dringend Hilfe. Aber der Wächter am Eingang will sie nicht ins Haus der Regierung hineinlassen, er ruft in der Wohnung an. Herunter kommt ein Mädchen mit einer Puppe auf dem Arm und sagt: "Mama hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie nicht zu Hause ist." Die Bäuerin bricht in Tränen aus. Das Mädchen drückt ihrer Tochter die Puppe in die Hand, dann verschwindet sie wieder im Haus der Regierung.
Der mächtige Verwandte der enteigneten Bauern war mein Urgroßvater Boris Schumatsky. Seine Frau Lija hatte die Verwandte weggeschickt, weil sie zu wohlhabend waren und als Klassenfeinde galten. Ihnen zu helfen wäre gefährlich gewesen. Mein Urgroßvater hatte in seiner Jugend einen Traum gehabt. Er träumte von Freiheit und Würde, kämpfte dafür in der Revolution und zog schon im vierzehnten Jahr des neuen Lebens in ein Traumhaus.
Im Haus der Regierung gab es alles, was ein glücklicher Mensch der kommunistischen Zukunft brauchen konnte: Kino, Sportsaal, Wäscherei, Postamt, Lebensmittelgeschäft und Kindergarten, alle Wohnungen waren mit Gas, Aufzügen und Müllschachten eingerichtet. 1931 zogen 505 Spitzenfunktionäre in diese luxuriöse Wohnanlage ein. Meine Urgroßeltern Boris und Lija hatten im Untergrund die Oktoberrevolution vorbereitet. Boris Schumatsky wurde 1917 der ersten sibirischen Sowjetregierung Zentrosibir und 1920 Premierminister der Fernöstlichen Republik. Er wollte das neue Leben nach der Revolution gestalten. Doch die steile Karriere des jungen Hilfsarbeiters, der es mit 33 zum Premierminister schaffte, bekam einen Knick und es ist fast ein Wunder, dass mein Urgroßvater später im Haus der Regierung wohnen durfte. Boris' Problem hieß Kóba.
Kóba war der Parteiname von Josef Stalin, mit dem ihn die Revolutionskameraden anredeten. Noch während der Revolution hatte sich Schumatsky über Stalins autoritären Charakter beschwert und sich sogar geweigert, mit dem Genossen Kóba zusammenzuarbeiten. Bei der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 überzeugte Schumatsky den Staatschef Wladimir Lenin, eine politische Entscheidung Stalins zu revidieren: Stalin weigerte sich, dem sibirischen Volk der Burjaten Autonomie zu gewähren. Schumatsky, der in der Region aufgewachsen war, setzte sie dennoch durch. Daraufhin wurde er in den diplomatischen Dienst abgeschoben, eine Art ehrenhaftes Exil. Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland bekleidete Schumatsky keine bedeutenden Posten, bis ihm 1930 die Leitung der Filmbranche anvertraut wurde. Obwohl er in Parteikreisen als Volkskommissar – also Minister – für Film bezeichnet wurde, war der einstige Revolutionsführer Sibiriens, Boris Schumatsky, nie wieder in der Regierung.
"Von allen Künsten ist für uns das Kino die wichtigste", sagte Lenin. Der Film war das Massenmedium der Zeit, eine Staatsangelegenheit. Stalin las Drehbücher der wichtigen Produktionen, sichtete Filmmaterial und schaute sich mit Mitgliedern seines Politbüros neue Filme im Kreml an. Dort wurde die Parteilinie bestimmt, die Boris Schumatsky konsequent durchzusetzen hatte und durchsetzte. Damals hatten die Regisseure wie Sergei Eisenstein oder Dsiga Wertow ihre revolutionäre Filmsprache entwickelt, die für Schumatsky zu formalistisch, zu unzugänglich war. Er förderte eine "Filmkunst für Millionen" und schrieb unter diesem Titel ein ganzes Buch.
Manchmal widersprach mein Urgroßvater Stalin, wenn er glaubte, die Parteilinie besser umsetzen zu können. So ließ er diese Rede von Stalin filmen, obwohl der Sowjetführer, der sich zu Recht für keinen guten Redner hielt, ihm dies verboten hatte. Danach kam Stalin auf meinen Urgroßvater zu und forderte, das Filmmaterial zu vernichten. Schumatsky sagte:
"Nur unter einer Bedingung."
"Was denn für eine Bedingung?"
"Wenn das Politbüro das beschließt."
Es war klar, dass sich das Politbüro kaum trauen würde, eine Führerrede zu vernichten. Die Rede war der Eröffnung der Moskauer Metro gewidmet, die als ein wichtiger Schritt in die Zukunft des Sozialismus gefeiert wurde. Der Sowjetmensch sollte von einer besseren Zukunft träumen, um die unerträgliche Gegenwart ertragen zu können, und es war die Aufgabe von Schumatsky, Filme zu produzieren, die den alten Traum am Leben hielten.
Einer der Filme, die unter der Leitung meines Urgroßvaters entstanden sind, war „Maxims Jugend“. In diesem Film gibt es eine Szene, in der ein junger Arbeiter noch Jahre vor der Oktoberrevolution seinen Zukunftstraum erzählt. Der Arbeiter und sein Freund Maxim sind wegen eines Protestmarsches ins Gefängnis gekommen, Maxim wird später in die Revolution gehen, sein Freund wird erhängt. Am Morgen der Hinrichtung wacht er auf und erzählt,
"Ich hatte gerade einen komischen Traum. Ich gehe in den Zarenpalast, will mit dem Zaren Nikolai reden, aber dort steht kein Thron, nur ein Sessel, und darin sitzt unser Maxim. Maxim ist ein Arbeiterzar geworden. Er sagt zu mir: "Du hast wie ein Schwein gelebt, hast nur von früh bis spät geschuftet. Und was willst du nun?" – "Ich will, Eure Majestät Maxim, wie ein Mensch leben." – "Dann lebe doch so. Arbeite acht Stunden und bilde dich weiter, um Minister zu werden." Ha, so einen Quatsch träumt man manchmal!"
Die Zuschauer in Stalins Sowjetunion sollten an dieser Stelle denken, dass der alte Revolutionstraum von Menschenwürde und Freiheit für sie längst Wirklichkeit war. Sie hatten tatsächlich einen Achtstundentag, ihre Minister hießen Volkskommissare und kamen aus dem Volk wie der einstige Hilfsarbeiter Schumatsky. Und es gab sogar auch einen Arbeiterzaren, der hieß Generalsekretär des ZK der KPdSU Josef Wissarionowitsch Stalin.
Aus Boris' Traum ist eine Propagandalüge geworden, und er musste sie selbst unters Volk bringen. Er tat es, und er tat es gut. Wenn Hollywood damals eine Traumfabrik war, war sowjetischer Film eine Lügenfabrik. Stalin brachte diese Lüge in seinem Spruch auf den Punkt, das Leben sei unter den Bolschewiki besser, fröhlicher geworden. Auch mein Urgroßvater trug den Filmemachern auf, "Die siegende Klasse will freudig lachen!"
Besonders wichtige Filmproduktionen fielen in die Zuständigkeit des obersten Staatszensors Josef Stalin. Ein solcher staatstragender Film war "Lenin im Oktober". Er wurde 1937 zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution gedreht und sollte die offizielle Sicht auf die Geburtsstunde des Parteistaates an die Massen bringen. Diesen Auftrag vertraute mein Urgroßvater dem jungen Regisseur Michail Romm an, der weniger als drei Monate für Dreharbeiten und Schnitt bekam. Dass der Film nicht fertig werden würde, stand außer Frage. Damals galt eine geplatzte Deadline als Sabotage, und Sabotage war neben Spionage und terroristischer Verschwörung ein verbreiteter Grund für eine Verhaftung. Viele Kollegen des Regisseurs Michail Romm waren zu diesem Zeitpunkt schon verschwunden, viele Mitarbeiter von Schumatsky auch, und meinem Urgroßvater selbst blieben nur zwei Monate.
Der Jahrestag der Oktoberrevolution wurde im November gefeiert, und der neue Film sollte am 6. November 1937 im Bolschoi Theater während der Feierlichen Jubiläumsversammlung seine Premiere haben. Diese Premiere, erzählte der Regisseur Romm später, war eine Katastrophe, die an Sabotage grenzte. Seine Erinnerungen an diesen Abend zeichnete Michail Romm in den 1960er Jahren auf Band auf, und sie erschienen noch in der Sowjetzeit auf Schallplatte.
"Es kam der Tag der Vorführung im Bolschoi Theater. In den Zeitungen wurden weitere Premieren in 16 Städten angekündigt. Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Bolschoi gekommen bin. Wo ist die Vorführkabine? Ich gehe hin, dort sehe ich Techniker miteinander streiten. Sie zittern alle, es bleiben nur 45 Minuten bis zum Beginn, und nichts ist fertig. Also gehe ich in den Saal, setze mich und zittere auch. Schumatsky kommt, schüttelt mir die Hand, auch er ist wahnsinnig nervös. Endlich geht es los."
Das Bolschoi Theater eignet sich schlecht für Filmvorführungen. Zu seinem Entsetzen musste Romm feststellen, dass die Leinwand winzig ist, das Bild blass und man nichts hört. Romm will in der Vorführkabine Bescheid geben, kommt aber nicht hin, ohne die Projektion zu stören. Unter den Zuschauern ist Stalin, das Politbüro, die Regierung, und alle würden seinen Schatten über die Leinwand tanzen sehen. Nach einigem Zögern geht Romm trotzdem in die Vorführkabine.
"Kein Ton!" sage ich dort, und man antwortet nur, "Das wissen wir, gehen Sie schnell zurück!" Also laufe ich zurück. Der Ton ist da, aber so leise, dass man nichts versteht. Kaum habe ich mich hingesetzt, reißt der Film. Ich sitze wie versteinert da, sitze und knirsche nur mit den Zähnen.
Dann laufe ich wieder in die Kabine, und kaum bin ich da, geht der Film weiter. Ich laufe zurück, und sieh' da, durch den Gang kriecht auf allen Vieren Schumatsky, und hinter ihm sein Stellvertreter, auch auf allen Vieren. "Was machen Sie denn", sagt Schumatsky zu mir, "man kann nichts hören!" Ich antworte: "Sagen Sie doch selbst dem Techniker, er soll den Ton lauter stellen!" Dann krochen sie zurück, aber in der umgekehrten Reihenfolge. Dann riss der Film wieder, und dann kroch Schumatsky wieder auf allen Vieren dorthin."
Auch drei Jahrzehnte später scheint Romm stolz zu sein, sich vor den Parteibonzen nicht auf alle Viere begeben zu haben. Mein Urgroßvater tat das aber, weil er vielleicht einfach Menschen nicht ausstehen konnte, deren riesige Schatten plötzlich mitten in einer spannenden Szene auf die Leinwand fallen. Er ging vor dem Lichtkegel in die Knie, ein Kriecher war er bestimmt nicht.
"Insgesamt riss der Film fünfzehn Mal, und am Ende war ich fertig, einfach nur fertig. Ich dachte nur, wann ist es endlich, endlich vorbei. Dann geh ich in die Kabine und rechne mit ihnen ab! Dann kam der Schluss. Endlich. Ich saß erstarrt mit geschlossenen Augen, denn das war ein offensichtlicher Reinfall."
Romm hatte nicht gesehen, wie in diesem Moment in der Regierungsloge von Bolschoi Josef Stalin aufstand, wie sich gleich auch die Politbüromitglieder von ihren Sitzen erhoben. Romm hörte zu seinem Entsetzen nur leisen Beifall, der aber schlagartig ohrenbetäubend laut wurde, als die Zuschauer Stalin klatschen sahen. Was weiter geschah, fand keinen Platz auf der sowjetischen Schallplatte. Romm rannte zur Vorführkabine. Er stellte sich vor, wie er dort alle mit Filmbüchsen erschlagen würde. Aber schon in der Tür traf Romm auf einen Beamten der Staatssicherheit, der zu ihm sagte:
"Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?".
"Ich bin der Regisseur des Films, ich komme, um jemanden hier umzubringen."
"Brauchen Sie nicht. Gehen Sie einfach." Romm schaute sich um und sah die Techniker, die mit zitternden Händen die Filmreste aufsammelten. Der Beamte gab ihnen Befehle. "Die Filmreste kommen in den Karton. Sammelt alles auf. Und keine Hetze, ihr müsst euch nicht beeilen, jetzt nicht mehr." Michail Romm fuhr nach Hause und bat seine Frau,
"Lölja, weck' mich bitte nicht. Nur wenn ich mehr als 24 Stunden schlafe, kannst du mich wecken." Ich schlief ein, und drei Stunden später weckte sie mich, "Steh auf, Schumatsky bestellt dich in sein Büro." Das Auto wartet schon. Ich fahre hin. Schumatsky reibt sich die Hände und sagt zu mir: "Nach der Vorführung sah sich Josef Wissarionowitsch den Film noch einmal an, und er bat mich, Ihnen Folgendes auszurichten: Ohne Sturm auf den Winterpalast und ohne Verhaftung der bourgeoisen Regierung ist die Niederlage der Bourgeoisie nicht deutlich genug dargestellt. Sie müssen diese fehlenden Szenen nachdrehen. "Ich frage: "Wie meinen Sie: nachdrehen? Wann? Der Film läuft bereits im Kino!" Schumatsky antwortet, "Nein, er läuft nicht mehr. Vor einer Stunde ist der Film telegrafisch zurückgezogen worden." Und ich bin zum ersten Mal im Leben in Ohnmacht gefallen.
Die Geschichte endete für Romm gut. Er bekam einen ganzen Monat Zeit und drehte die fehlenden Szenen nach. Der Sturm auf den Winterpalast ist eine laute Gefechtsszene, obwohl in Wirklichkeit gerade in diesem Moment wenig geschossen wurde. Der richtige Bürgerkrieg brach erst danach aus, doch der Revolutionskult brauchte einen überzeugenden Sieg.
Als ich vor einiger Zeit die Verhaftungsszene der Regierung sah, kam mir ein Detail fast subversiv vor. Die Regierungsmitglieder, gepflegte Herren mit schwarzen Anzügen, werden von Rotarmisten umstellt. Ihr Anführer erklärt die Regierung für abgesetzt, dann fügt er plötzlich in einem beiläufigen Ton hinzu, "Waschi dokumentiki", die Ausweis-"Papierchen" will er von den Verhafteten haben. Mit solch lässiger Herablassung hat in der Stalinzeit ein Volkspolizist mit einem Taschendieb gesprochen oder ein Staatssicherheitsbeamter mit einem überführten Volksfeind.
Diese Szene, vielleicht dem Unbewussten der Filmemacher entsprungen, fasst die gesamte russische Revolution zusammen. Noch Lenin sah Revolution als Bürgerkrieg. "Es lebe der Bürgerkrieg!", unter dieser Losung focht auch Boris Schumatsky die Revolution in Sibirien. Und sie haben den Bürgerkrieg auch bekommen, zuerst einen gegen die Weißen, Monarchisten und Republikaner, dann gegen alle anderen politischen Farben, und schließlich gegen alle Bürger. Diejenigen, die davon selbst noch nicht betroffen waren, versammelten sich in ihren Betrieben oder am Wohnort und forderten das Blut der Volksfeinde. Ein Archivfilm zeigt Frauen in weißen Kitteln und Kappen, gerade spricht eine Laborantin oder Krankenschwester:
"Sie wollten der Arbeiterklasse das nehmen, was sie am meisten lieb hat, unseren geliebten, teuren Genossen Stalin. Keine Gnade den Feinden! Alle bis auf den letzten Mann erschießen! Wie tollwütige Hunde! Tod den Vaterlandsverrätern!"
Während des Terrors konnte jeder eines Morgens als Volksfeind aufwachen, aber das war vielleicht nicht das Schlimmste. Jeder konnte auch zum Hetzer und Henker anderer gemacht werden. In meiner Familie sprach man nicht gerne darüber, ob sich mein Urgroßvater selbst am Terror beteiligte. Ich hörte nur Gerüchte von Parteiversammlungen, bei denen mein Urgroßvater die angeblichen Feinde des Volkes unter den Anwesenden aufdeckte. Ich ließ mir keine Details erzählen, und als ich später selbst meine Familiengeschichte erzählte, sprach ich nie darüber. Es war nur ein Bild, das zu mir durchdrang und das ich beinahe verdrängte. Ein Versammlungsraum und eine Frau, die aufsteht und zur Tür geht. In der Totenstille hört man nur ihre Ansätze klackern. Sie macht die Tür hinter sich zu und verschwindet für immer.
Damals hatte Boris Schumatsky bereits geahnt, dass er selbst bald verschwinden würde. Er bat seine Tochter, ihren neugeborenen Sohn nach ihm zu nennen, damit zumindest sein Name weiter lebt. Das war mein Vater, der auch mich Boris Schumatsky nannte. Ich glaube, ich bin der letzte Boris Schumatsky in dieser Geschichte, und es ist nun an mir, einen Punkt zu setzen. Die Frau, die damals den Raum und das Leben verließ, hieß Sliwkina, ich konnte bisher nur ihren Nachnamen herausfinden. Sie war die Ehefrau eines Mitarbeiters meines Urgroßvaters, der bereits verhaftet worden war. Eine Zeitzeugin war bei dieser Versammlung dabei. Sie erinnert sie sich gut an Sliwkina, schreibt aber nicht, ob mein Urgroßvater damals im Podium saß.
"Bei solchen Versammlungen bekam man nicht einmal das Wort, um sich reinzuwaschen, denn dies könnte den Anwesenden als "Abstumpfung der Wachsamkeit" angelastet werden. Genauso wurde Sliwkina dem Tod preisgegeben. Man beschuldigte sie, Ehegattin eines Volksfeindes zu sein, sie sollte den Raum sofort verlassen. Sie ging schweigend raus. Viele trauten sich nicht, die Augen zu heben. Starre. Eine erdrückende, dumpfe Stille... " Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, ob mein Urgroßvater diese Versammlung geleitet hatte.
Josef Stalin fand eine ideologisch konforme Formel für den Terror, der wie Krebs das Land durchdrang: Die Verschärfung des Klassenkampfes während des sozialistischen Aufbaus. Das bedeutete, dass der Traum von Freiheit und Menschenwürde, den die Revolution nicht erfüllte, nach wie vor dem Klassenkampf weichen muss. Die Feinde werden mit der Zeit sogar noch erbitterter, sie kommen einem immer näher, und sie müssen noch entschiedener bekämpft werden. Das glaubten fast alle Sowjetmenschen, und man zweifelte höchstens nur dann, wenn eine Arbeitskollegin oder ein alter Familienfreund abgeholt wurden. Diesen Terrorwahn konnte aber nur der infrage stellen, wer selbst Volksfeind war. Also sagten sich Menschen, wenn mein bester Freund Feind des Volkes ist, heißt das nur, dass Feinde übermenschlich raffiniert sind. Und gegen diesen hinterlistigen Feind sind alle Mittel recht. Wenn der Klassenfeind sich als dein Mann, dein Kind tarnt, musst du deinen Mann und dein Kind besonders erbarmungslos bekämpfen.
Ich fand keine Hinweise darauf, ob mein Urgroßvater an Volksfeinde geglaubt hatte. In seinen Reden und Zeitungsartikeln kann er zwar nicht umhin, sie zu geißeln, aber er nennt nur Menschen, die bereits verhaftet sind. Seine Aufgabe war es auch, die Filmrollen mit Aufnahmen von überführten Feinden vernichten zu lassen. Ein großer Teil der Verordnungen, die Boris Schumatsky in den Jahren 1936 und 37 erlassen hat, beschäftigt sich mit der Vernichtung solcher Archivaufnahmen. Auch im Film sollten die Feinde eliminiert werden. Aber was tun, wenn auch Stalin oder Lenin im Bild waren?
Winston Smith, die Hauptfigur in George Orwells "1984", ist Mitarbeiter des Ministeriums der Wahrheit und muss die alten Zeitungsberichte und Fotos nachträglich ändern, um sie an die aktuelle Parteilinie anzupassen. Mein Urgroßvater beauftragte seine Regisseure und Cutter in allen Filmstudios der Sowjetunion, aus dem Archivmaterial die Einstellungen mit Trotzkis oder Bucharins herauszuschneiden. In komplizierten Fällen wurde ein Blumenstrauß oder eine Tischlampe gefilmt und nachträglich über das Gesicht eines Volksfeindes gelegt.
Am 31. Dezember 1937 klingelte bei meinem Urgroßvater das Telefon. Er wurde in den Kreml eingeladen. Boris Schumatsky zeigte dort regelmäßig Filme, aber diesmal war es ein privater Anlass. Er sagte ab, er wollte den Abend mit seiner Familie und seinem kleinen Enkel, meinem Vater, verbringen. Aber bald stand vor seinem Haus ein schwarzer Wagen. Mein Urgroßvater wurde abgeholt und in den Kreml gebracht, wo Stalin Silvester feierte.
Von Stalins Feiern existieren keine Film- oder Audioaufnahmen, aber vermutlich klangen Stalins Trinksprüche wie seine politischen Reden, weil seine Reden wie Trinksprüche klingen: "Das Leben ist besser geworden, Genossen, das Leben ist fröhlicher geworden!" Fotografieren war bei Stalins Festen untersagt, aber aus Zeugenberichten und erhaltenen Speisekarten weiß man, was dort aufgetischt wurde. Kalte Vorspeisen in Kristallschüsseln, roter und schwarzer Kaviar, Sekt, Wein, Wodka in Karaffen und Mineralwasser. Letzteres war für meinen Urgroßvater wichtig, weil er keinen Alkohol trank. Wenn alle anderen mit Pfefferwodka anstießen, saß Schumatsky vor seinem Wasserglas. Denn mit Wasser stößt man in Russland nicht an. In der Partei wusste man von seiner kleinen Macke und respektierte sie. Aber nicht in dieser Nacht. Am nächsten Morgen erzählte mein Urgroßvater zu Hause, was Stalin zu ihm gesagt hatte.
"Boris, du hast anscheinend keine Lust, auf mein Wohl zu trinken."
"Kóba, Sie wissen doch, dass ich nicht trinke." Sie waren alte Revolutionskameraden und hatten sich geduzt. Aber später, als Stalin zum Alleinherrscher aufstieg, sprach ihn mein Urgroßvater wahrscheinlich mit Sie an. Wie dem auch sei, schon die Anrede mit dem alten Parteinamen Kóba war ein Affront. Stalin klang verärgert.
"Allen haben wir’s beigebracht, nur dir nicht. Willst du vielleicht besser sein als andere?
"Mir kann man das nicht beibringen."
"Ach was, wir haben schon bessere als dich gebogen und kleingekriegt."
"Man kann mich nicht biegen, man kann mich nur brechen."
"Dann werden wir dich eben brechen... Also, Genossen, nun lasst uns fröhlich feiern." Schumatsky wurde nicht gleich verhaftet. Seine Frau Lija dachte, dass man ihrem Boris zwei Wochen Zeit gab, damit er sich das Leben nahm. Als man Boris und Lija eines Nachts schließlich abholte, ließen sie ihre Tochter weiter schlafen. Die Staatssicherheit sagte damals einem, man würde nur zu einem Gespräch vorgeladen. Lija wurde tatsächlich freigelassen. Ihre Wohnung war versiegelt. Die Tochter, die einst den enteigneten Bauernverwandten ihre Puppe geschenkt hatte, übernachtete bei Freunden. Im Haus der Regierung war fast die Hälfte der Wohnungen von Volksfeinden gesäubert. Neue Funktionäre zogen ein und manche wurden auch abgeholt, so dass einige Wohnungen innerhalb von vier Jahren fünfmal die Bewohner wechselten.
Das letzte Bild von Boris Schumatsky wurde für seine Akte bei der Staatssicherheit gemacht. Schumatsky schaut trotzig in die Kamera, es ist erst sein erster Tag im Gefängnis. Wahrscheinlich weiß der abgesetzte Minister noch nicht, was dort mit Menschen gemacht wird. Folter von Volksfeinden war erst im Sommer des Vorjahres angeordnet worden, der entsprechende Befehl war geheim.
Die Mittel der physischen Einwirkung sind in Ausnahmefällen gegen diejenigen Volksfeinde anzuwenden, die humane Methoden des Verhörs dazu missbrauchen, Namen anderer Verschwörer unverschämt zu verheimlichen und die monatelang keine entsprechenden Aussagen machen.
Wahrscheinlich erwartete Schumatsky Haftbedingungen wie in der Zarenzeit. Vor der Revolution war er mehrmals verhaftet worden und war zweimal aus dem Gefängnis ausgebrochen. Darüber und über seine revolutionäre Jugend hatte Schumatsky dem Regisseur des Spielfilms "Maxims Jugend" erzählt, der viele Szenen nach der Erinnerung seines Chefs drehte. Als Schumatsky Stalin neue Filme im Kreml zeigte, machte er Notizen. Zu einer Szene im zaristischen Gefängnis, in der Häftlinge verprügelt werden, notierte er, dass Stalin dabei "mit großer innerer Spannung" zuschaute. Die Verprügelten sangen den Wächtern zum Trotz das alte Revolutionslied Warschawjanka, und Schumatsky vermerkte, dass "einige Genossen, die anwesend waren, in das Lied mit einstimmten." Am ersten Verhaftungstag weiß mein Urgroßvater allem Anschein nach noch nicht, dass ihm ein Mordplan gegen Stalin vorgeworfen wird. Er hofft auf Entlassung. Er hofft, dass er sich wieder durchsetzen kann wie die singenden Revolutionäre in "Maxims Jugend". Aber bei der Staatssicherheit hatte das Wort "singen" eine andere Bedeutung. Es hieß gestehen. Und mein Urgroßvater hat gesungen.
Bis vor kurzem wusste ich nicht, dass mein Urgroßvater gefoltert wurde. Ich hatte zwar in seiner Akte gelesen, dass er die unglaublichsten Verbrechen gestand. Aber irgendwie glaubte ich, oder vielleicht wollte ich nur glauben, dass er sich dazu überreden ließ. Mein Urgroßvater, der Revolutionär der ersten Stunde, gestand, "Ich war Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana. Ich war englischer Spion. Ich war japanischer Spion. Ich gehörte der Geheimorganisation der rechten Verschwörer an. Ich plante einen Terroranschlag gegen die Leitung der Partei und der Regierung."
Viele Altbolschewiki hatten bei Schauprozessen der 1930er Jahre ähnliche Geständnisse abgelegt. Besonders die Stalin-Versteher im Westen hatten eine gute Erklärung dafür. Die alten Revolutionäre ließen sich angeblich mit dem Argument bekehren, es sei die Revolution selbst, die ihr Geständnis brauche, und wenn sie gestehen, würden sie der Revolution dienen. An Folter wollten damals viele nicht denken, ich später auch nicht. Erst kürzlich fand ich einen Zeugenbericht, der einen letzten Einblick in das Leben meines Urgroßvaters erlaubt. Ein ehemaliger Mitarbeiter hatte ihn im Gefängnis gesehen, bei einer Otschnaja Stawka. Das ist ein Begriff aus der Kriminalistik, den alle russischen Muttersprachler nach Jahrzehnten von Verhören durch Polizei und Geheimdienst kennen. Zu Deutsch heißt es "Vernehmungsgegenüberstellung", ein Wort, das allein Fachleuten bekannt ist. Es bedeutet das gemeinsame Verhör von Zeugen oder Beschuldigten. Mein Urgroßvater hatte den Filmingenieur Jewsej Goldowski als Mitglied seiner terroristischen Verschwörung genannt. Doch Goldowski bestand auf der eigenen Unschuld. Dann wurde er mit Schumatsky in einem Otschnaja Stawka-Verhör konfrontiert. Was dann passierte, schrieb später Goldowskis Tochter auf.
"Papa erzählte mir, wie während seines Verhörs plötzlich die Tür aufging und Schumatsky hereingeführt wurde. Der Untersuchungsführer sagte zu Papa, "Nun können Sie sich nicht mehr herausdrehen." Papa erkannte Schumatsky zuerst aber nicht. Ein starker, immer selbstsicherer Mann, saß er jetzt gebrochen, gebückt da, mit erloschenen Augen, die er nicht einmal zu Papa hob. Schumatsky hockte auf einem Stuhl, er hatte eine helle, fast weiße Hose an, eine Pyjamahose oder eine lange Unterhose, und Schuhe ohne Schnürsenkel. Als Schumatsky die Beine überschlug, sah Papa, dass seine Haut ganz weiß ist. Dann verstand Papa alles. Man hatte Schumatsky durch ein nasses Leintuch geschlagen, weil dabei die Blutergüsse tief nach innen gehen. Das war eindeutig zu erkennen."
Mein Urgroßvater starrte die Tischplatte an, und als der Untersuchungsführer fragte, ob er Goldowski kennt, antwortete Schumatsky, ohne jemanden anzusehen, "Ja."
"Haben Sie Goldowski angeworben?"
"Ja."
"Haben Sie ihn mit dem Anschlag beauftragt?"
"Ja."
Auf alle Fragen, erzählte Goldowskis Tochter, antwortete Schumatsky mit "Ja."
Das konnte sich Papa nicht länger anhören, "Was erzählen Sie da, so ein Gespräch hat nie stattgefunden! Ich glaube überhaupt nicht, dass Sie jemanden mit so etwas beauftragen konnten! Wieso verleumden Sie sich selbst?" Schumatsky hob plötzlich die Augen und schaute Papa mit dem verschwommenen Blick eines absolut Irren an. Etwas Wildes erschien kurz in seinen Augen, dann senkte Schumatsky wieder seinen Kopf und wiederholte nur, "ja", "ja", "ja". Papa sagte immer nur "nein".
Jewsej Goldowski, dem man in der Untersuchungshaft alle Zähne ausgeschlagen hatte, wurde schließlich freigelassen. Nach Goldowskis Tod durfte seine Tochter die Ermittlungsakte ihres Vaters sehen. Sie erfuhr, was ihrem Vater das Leben gerettet hatte.
"Eine Stunde nach der Vernehmungsgegenüberstellung bat Schumatsky darum, eine Aussage zu machen, und er nahm alles zurück, was er über Papa ausgesagt hatte. Er sagte, Goldowski hätte sich nicht an der Verschwörung beteiligt. Über Schumatsky späteres Schicksal wusste man lange nichts. Ich hörte, dass er sich im Gefängnis das Leben genommen hatte. "
Ich durfte auch die Akte meines Urgroßvaters lesen, und ich weiß, wie er gestorben ist. Er brachte sich nicht um und wurde vor ein Tribunal gestellt, vor Stalins Volksgericht. Eine Szene vor dem Volksgericht gibt es auch im Revolutionsfilm über Maxim. Nach "Maxims Jugend" wurden noch zwei Filme gedreht. In den beiden ersten geht der junge Arbeiter, wie auch Schumatsky einer war, in die Revolution. Der Weg, den auch Schumatsky gegangen ist. Im dritten wird Maxim wie Schumatsky zum Volkskommissar ernannt. Schließlich erscheint Maxim im letzten Film im Saal des Volksgerichts. Allerdings ist Maxim nicht der Angeklagte. Er klagt selbst Männer an, wegen bewaffneten Überfalls.
"Vor Angesicht des Gerichts, vor Angesicht des Volkes frage ich euch, wer euch geschickt hat? Wer versteckt sich hinter euren Rücken? Raus mit den Namen! Ihr schweigt?"
"Dann gibt's für euch keine Gnade! Ich sage, es soll über euch nach dem Gewissen geurteilt werden, nach dem revolutionären Gewissen, und auch nach dem Gesetz, nach dem höchsten Gesetz der Oktoberrevolution! Nach Gewissen und nach Gesetz, sage ich nur, kein Gnade! Vernichten! "
Als dieser letzte Film über Maxim erschien, war der Prozess von Boris Schumatsky bereits beendet. Außerhalb der sowjetischen Kinos urteilte das Volksgericht schnell und ohne große Reden. Die Gerichtstroika musste an diesem Tag 138 Menschen verurteilen. In der Liste, die Stalin vorgelegt worden war, standen 139 Namen, einen strich Stalin durch. Dieser Name war nicht Boris Schumatsky. Der Mann, der meinen Urgroßvater erschossen hat, hieß Leutnant Scheweljow. Die damals übliche Hinrichtungsmethode war Genickschuss. Zum Vornamen des Henkers oder zum Todesort fand ich in der Staatssicherheitsakte keine Angaben. Urgroßvaters Name ist auf unserem Familiengrab eingraviert, obwohl niemand weiß, wie und wo seine Leiche entsorgt wurde.
Mein Urgroßvater kommt zu seinem Platz, schüttelt jemandem, den man nicht recht sehen kann, die Hand, dabei verzieht er kaum merklich den Mund in der Andeutung eines Lächelns, und während er sich hinsetzt, wirft Boris Schumatsky einen flüchtigen Blick in die Kamera. Die Wochenschau aus dem Jahr 1935 berichtet über den Kongreß der Filmschaffenden. Der Filmminister Schumatsky, mit dem nagelneuen Leninorden auf der Brust, hält die Eröffnungsrede. Er bewahrt seine geübte diplomatische Haltung: die Hände gefaltet. Dann aber, ohne daß es ihm bewußt zu sein scheint, lösen sie sich, um hektisch das Rednerpult zu umklammem. Im letzten Moment fängt er seine Hände wieder ein und macht die angefangene Bewegung zu einer rednerischen Geste in Richtung des überfüllten Säulensaals im Haus der Sowjets. An diesem Tag hat er noch mehr als zwei Jahre zu leben. Er ist vier Jahre jünger als ich heute und steht auf dem Höhepunkt seiner Karriere.
Dennoch kommt mir seine Stimme alt und verbraucht vor. Klingt man so, wenn man an seiner Lebensaufgabe scheitert? Wenn man erleben muss, wie sich der schöne Traum von Revolution in einen bösartigen Tumor verwandelt? Ich weiß nicht, was mein Urgroßvater vor seinem Tod über den Oktober dachte. Aber schon in meiner Kindheit war seine Revolution lediglich ein lästiger Kult, eine aufgezwungene Lüge. Wir sollten, sagte man uns Kindern, Opa Lenin dankbar für unsere glückliche Kindheit sein. Aber wenn sie tatsächlich glücklich war, dann nicht wegen, sondern trotz Schule, Pionierorganisation oder Partei. Diese waren mit den Metastasen der Gewalt durchdrungen, die aus der Zeit Lenins und Stalins, aus der Zeit meines Urgroßvaters zu uns reichten. In der späten Sowjetunion waren diese Überreste des Terrors lahm und verkrustet, aber sie waren nicht tot zu bekommen. Manchmal scheinen sie auch heute wieder zum Leben zu erwachen. Das ist es, was von Boris' Traum übrig blieb.
© Boris' Traum. Geschichte eines russischen Revolutionärs (Teil I und II). Deutschlandfunk Kultur, 25. und 26.10.2017