Silvester bei Stalin
Auszug aus dem ersten Kapitel
Es war der 31. Dezember 1937. Die Familie verbrachte die Feiertage in einem Ferienheim für hochgestellte Parteifunktionäre in Morosowka. Alle warteten auf Boris Sacharowitsch Schumatsky. Mein Vater, neun Monate alt, schlief draußen in der Kälte. Boris Sacharowitsch verbrachte immer viel Zeit mit seinem kleinen Enkel, aber an diesem Abend wurde er durch dringende Geschäfte in Moskau aufgehalten. Er kam erst am späten Nachmittag und spielte mit dem Enkel auf dem Balkon, als das Telefon klingelte. Stalins Privatsekretär Poskrjobyschew war am Apparat und sagte: "Genosse Stalin bittet Sie, zur Silvesterfeier in den Kreml zu kommen."
Boris Sacharowitch antwortete, daß er nicht kommen könne, daß er seine Familie lange nicht gesehen habe und dieses Familienfest zu Hause verbringen wolle - und legte auf. Seine Frau war fassungslos.
"Weißt du, was du da machst?" fragte sie. "Es ist doch Stalin!" Es klingelte gleich noch einmal. mehr...
Pressestimmen
Ein bewegendes Dokument an der Schnittstelle offizieller und privater Geschichtsdeutung.
Mord im Projektor Rezension von Sylvia Schütz, Süddeutsche Zeitung, 8.3.2000
Das Buch gehört zu den notwendigen Zeugnissen, die seit dem Untergang der Sowjetunion entstanden und als Beiträge zu einer russischen Vergangenheitsbewältigung zu verstehen sind.
Kein Wasser für den Chef Rezension von Ralph Dutli, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.8.1999
Im engsten Familienkreis sprach man nie mehr über den Diktator. Es ist vermutlich dieses weitverbreitete Tabu, das die russische Öffentlichkeit bis heute davon abgehalten hat, ein kritisches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit zu finden. Die nüchtern erzählte Familiengeschichte ... dokumentiert die fatale Trägheit ideologischer Überzeugungen, die trotz äusserstem Leidensdruck weiterbestehen können. Um so wichtiger ist der analytische Blick der Nachfahren, die heute nicht nur mit dem geistigen Erbe ihrer Familie, sondern auch mit der Last der Geschichte leben müssen.
Stalins schreckliche Spur Rezension von Ulrich M. Schmid, Neue Zürcher Zeitung, 17.02.2000
Schumatskys Familiengeschichte liefert wertvolle Ergänzungen zu den vielfältigen Bemühungen der Historiographie, die sieben Jahrzehnte der UdSSR-Geschichte gründlich aufzuarbeiten. Durch Bezugspersonen wie Sergej Eisenstein wirft sie Schlaglichter auf kulturelle Prozesse der 1930er bis 1990er Jahre.
Osteuropa, Bd. 51, 1, 2001
Boris Schumatsky führt den Leser durch Jahrzehnte sowjetischer Geschichte. Er lässt anhand der Einzelschicksale aus seiner Familie ein plastisches Bild von Denken, Hoffen und Bangen der Stalinzeit entstehen, das einen mitunter mehr lehrt über dieses System als dicke theoretische Wälzer.
Tagesanzeiger Zürich 1.04.2001