Fremdsprachenstunde für Friedenstauben
Ich schaue vom Rand einer Grube auf hineingeworfene Leichen, und ich frage mich, ob der junge Mann, der nur einen Gummistiefel trägt, gegen die russische Armee gekämpft hat und ob die Frau neben ihm wirklich Zivilistin war. Trainingshosen, alte Socken, bunte Kopftücher. Die Grube liegt irgendwo in Grosny, es ist Februar 1995, zwischen halbzerstörten Wohnblocks ist niemand zu sehen, die Russen schießen auf Passanten. Neben der Grube sehe ich mehr Tote, es stinkt, und heute bin ich angewidert von mir selbst, wie ich da stehe und mich nicht auch mitgestorben, miterschossen fühle.
Ich war mitten in einem verbrecherischen Krieg, und ich sah nur einen «Konflikt», ein Unwort, das heute den russischen Überfall auf die Ukraine aufschlüsseln soll. Kriegslüsterne Konfliktparteien, die einfach miteinander reden sollten, dann ist wieder Frieden. Die Ukraine dürfe keine Waffen bekommen, heißt es, sie müsse doch endlich einsehen, dass Russland übermächtig sei.
Ganz so taub für Gewalt und ihre Opfer war ich allerdings nie, ich schrieb damals über diese Grube, über andere russische Kriegsverbrechen, und doch brauchte ich einen nächsten russischen Überfall, bis ich verstand: Über Gewalt spricht man anders und vor allem mit Gewalt. «Frieden» klingt für die Gewalt wie «Feuer frei», und wer vor Eskalation warnt, fordert den Atomschlag heraus.
«Putin versteht nur Stärke», diese Wortfolge erzielte heute 351 Treffer im Internet, und mindestens so oft wird Russland missverstanden. Nicht Stärke ist entscheidend. Im Westen, so dachte Michel Foucault, der das Wort «Westen» eigentlich mied, ist es Macht, die alles bestimmt. In Russland zählt wirklich nur eines: Gewalt. Putin versteht und spricht sie fließend, denn Gewalt ist eine Sprache, in der sein Land codiert ist. Ich weiß das, ich hatte Gewaltrussisch schon in der Grundschule.
Gesunde Bosheit
In der dritten oder vierten Klasse entdeckte ich an mir einen Defekt. Nicht etwa, dass mein Vater jüdisch war, das erzählte er mir erst später. Es war meine Unfähigkeit, einem anderen Kind ins Gesicht zu schlagen. Beim Spielen ging es ja noch, aber im Ernstfall, wie vor dem Biologie-Zimmer mit Sergei, war ich wie gelähmt.
Wir warten vor der Tür, Bio fängt gleich an, und Sergei meint es plötzlich ernst. Er sagt etwas zu mir, und ich erkenne einen Eröffnungssatz der Gewalt. Meistens ist es eine Unterstellung, zum Beispiel: «Du hast meinen Spielzeugindianer geklaut!» Obwohl er ihn gegen meinen Cowboy getauscht hat. Oder etwa Putins Vorwurf an die Nato: «Ihr kreist uns ein!» Beides bedeutet nur so viel wie einen leichten Schlag gegen die Schulter. Sergei wartet, wie ich reagiere, er grinst.
Dieser Sergei ist eigentlich ein freundlicher Junge. In einer Schule, an der wir nur Russisch oder Bio und nicht auch die Sprache der Gewalt gelernt hätten, wären wir vielleicht befreundet gewesen. Aber bei uns ist es besser, sloj, böse zu sein. Das Böse ist auf Russisch oft gut. Ein böser Wachhund ist ein guter, unsere Lehrer sprachen sogar von einer «gesunden Bosheit» etwa beim Sport. Ein Böser ist stark und erbarmungslos, also ungefähr so, wie viele westeuropäische Friedensbewegte Wladimir Putin sehen. «Frieden» bedeutet für sie, jeden Widerstand einzustellen, den Aggressor nicht zu provozieren.
Verbracht und verprügelt
Sergei packt mich am Kragen, zieht mich zu sich hin, ich spüre, dass er noch zögert. Unbewusst hofft er wohl noch auf eine korrekte Antwort: dass ich seine Hand wegschlage oder ihn einen pidoras, einen Arsch nenne, damit wir, zwei böse Jungs, unsere Ranzen vom Boden aufheben und zusammen in den Bio-Raum laufen können. Ich sage: «Ich will mich nicht mit dir prügeln», und ich lasse Sergei, der sloj sein will, einfach keine Wahl. Wer so mit Putin spricht, beleidigt ihn. Statt «Wir wollen keine Kriegspartei werden» hört er: «Du bist genauso ein Prügelknabe wie ich.»
Sergei schlägt, nein er berührt mich an der Wange, fast kraftlos, denn in der Syntax des Gewaltrussischen gehört der Gesichtsschlag eigentlich ans Ende des Satzes. Ich weiß, gleich werde ich verprügelt. Das russische «verprügelt» hat die Endgültigkeit des deutschen «verbracht»: «Verbracht ins Gelände mit der untrüglichen Spur», wie Paul Celan über deportierte Juden schrieb. Oder wie man heute über Gefährder sagt, sie müssen «des Landes verbracht» werden. Wenn Sergei mich jetzt verprügelt, werde ich zu jemandem, den alle verprügeln müssen. Sergei holt aus, gleich wird er zuschlagen, mich verprügeln, und vielleicht hat er mich sogar schon für immer verprügelt.
Ich spüre die Wut, oder ich schmecke sie, ich habe mir in die Wange gebissen, als Sergei sie gestreift hat. Nun bin auch ich sloj, und Sergei bekommt es zu spüren, er spürt meine Fäuste an seinem Kopf, meine Knie in seinem Bauch, er hält sich die Unterarme vors Gesicht, muss immer weiter ausweichen, bis er es nicht mehr kann, er ist mit dem Rücken gegen etwas Weiches gestoßen. Unsere Biologielehrerin. Als ich meine Brille richte, sagt sie: «Marsch nach Hause, und nächstes Mal will ich dich mit deinen Eltern hier sehen.»
«Die neue Heloise»
Ich laufe schnell in der kalten Wintersonne, die Mütze in der Hand, im Mund noch ein bisschen Blutgeschmack, aber ich bin kein Verprügelter, diesmal nicht. Ich bin so glücklich, weil zu Hause Julia auf mich wartet. Eigentlich heißt sie «Julie oder Die neue Heloise», sie erschien 1764 auf Französisch und drei Jahre nach meiner Geburt in einer neuen russischen Übersetzung, als der 53. Band der Bibliothek der Weltliteratur in Moskau. Von den 774 Seiten liegen die meisten noch vor mir. Julia verliebte sich gegen den Willen der Eltern in ihren Privatlehrer, und ich habe mich schon tief in sie eingelesen.
Noch lieber wäre ich in einen Abenteuerroman eingetaucht. Mein Vater meinte aber, ich sollte bis zu meinem 18. Geburtstag alle 200 Bände der Weltliteratur gelesen haben. Sie würden mir in der Zukunft helfen, und Zukunft war für ihn Vergangenheit. Vater nannte es «1937», niemals «Terror» oder «Stalin». 1937 wurde mein Vater auch geboren, und er lebte sein Leben lang in diesem Jahr. Das überstand er dank der Weltliteratur, die für mich damals oft anstrengend war, besonders die Buchanfänge.
«Ich sehe mit Entsetzen, welche Qualen sich mein Herz zubereitet, ich suche nicht mich über mein Übel zu täuschen!», so ungefähr klang Julias russische Übersetzung, und ich war nur froh, diese Qualen gegen die meinen einzutauschen, wenn auch nur für 100 Seiten am Tag. Mehr durfte ich nicht lesen, Vater gab mir kein neues Buch, wenn ich das vorherige zu schnell verschlungen hatte. Ich sollte, glaube ich, meine Augen schonen und vor allem das reale Leben kennenlernen.
Was meine Eltern über die Realität außerhalb unserer Wohnung dachten, sagten sie mir damals nicht. Aber Vater sprach viel von seiner Familie und vom Rücken meines Großvaters Lasar. Lasar war immer wieder gefragt worden, warum sein Rücken mit tiefen Narben durchfurcht sei. «Mich hat die Gestapo verhört», log Lasar.
Es war nicht die deutsche Gestapo, die ihn gefoltert hat, so die Geschichte meines Vaters, sondern es waren «unsere»: Du bist ein Verräter und Spion, sagt der NKWD-Ermittler zu Lasar, Lasar greift den Hocker, auf dem er sitzt, und zerbricht ihn auf dem Kopf des Tschekisten. Seine Mitarbeiter peitschen Lasar aus, sie prügeln ihn mit Telefonkabeln in den Tod. Bei «Telefonkabel» hat mir Vater lange in die Augen geschaut. Lasar stirbt nicht, kommt ins Lazarett, wird freigelassen. Vielleicht wollte Vater, dass ich wie Lasar werde, und ich wollte wie der verliebte Lehrer mein Leben mit Julia verbringen – und mit vielen anderen Büchern.
Füg dich, meine Schöne
In zwei Wochen wird Putin den Befehl zur vollumfänglichen Invasion in die Ukraine geben, jetzt gibt er eine Pressekonferenz und ist nicht gut gelaunt. In seinem Botox-Gesicht regt sich erst etwas, als er die zwei letzten Zeilen dieses russischen Volksreims an die Ukraine richtet: «Meine Liebste liegt im Sarg, / ich mach mich an sie ran, ich fick sie. / Ob’s dir Spaß macht oder nicht, / Füg’ dich, meine Schöne.» Es gibt eine mildere Version dieses Reims, in der die Frau schlafen sollte, aber Putin verlangt von der Ukraine, «terpi», sie soll sich ihm fügen, seine Gewalt erdulden.
In der Grammatik der russischen Gewalt kann das Subjekt, der Gewalttäter, nie ohne ein Objekt stehen, ohne einen terpila, Dulder. Wer mit der russischen Gewalt über Frieden reden möchte, darf nicht taub dafür sein. Mit Duldern, die Russland über seine «legitimen Interessen» erzählen, ist nur ein Umgang möglich, siehe oben. Wenn Putin im Video «Füg’ dich» ausspricht, kommt etwas Leben in seinen Blick, die Augen werden schmaler, ein Mundwinkel zieht sich hoch, Putin scheint allein schon durch den Sprechakt befriedigt.
Noch unterm Zaren hieß es über Länder, die Russland sich gefügig machte, sie seien «befriedet» worden. In der Sowjetunion hieß das Friedenskampf, und wir lernten im Friedensunterricht, wie die westliche Friedensbewegung unserem Land half, auf der ganzen Welt für den Frieden zu kämpfen. Heute hilft sie Putin.
Jedes Mal, wenn das Wort «Frieden» fällt, sei es nur in einem Internetkommentar, wird dies in russischen Großraumbüros registriert und verstärkt zurückgeworfen. Jeder Post bedeutet eine Kugel mehr in jemandes Fleisch, jeder Flyer mit Picassos Taube sorgt dafür, dass sich mehr Menschen im Keller ihres Hauses verstecken müssen, weil Uniformierte in ihre Wohnung einziehen, zu ihnen in den Keller kommen, sie verprügeln, vergewaltigen, erschießen, bis sich ihnen alles fügt.
Und ich selbst, habe ich mich jemals der russischen Gewalt gefügt?
Unterkiefer für russische Fäuste
Ich bin schon siebzehn, ich stehe mit Dima vor unserer Schule. Gerade habe ich etwas über Bücher gesagt, und plötzlich wechselt Dima in eine andere Sprache. In dieser Sprache hasst er mich. Er hebt seine Faust zu meinem Gesicht, ungefähr auf halbe Höhe zwischen seiner Brust und meinem Unterkiefer. Ich verstehe, was das bedeutet, ich weiß, dass ich gleich zuschlagen muss, und wieder weiß ich nicht, ob ich es schaffe. Ein paar Freunde von Dima sind noch da, sie haben uns noch nicht umzingelt.
Wir schauen uns in die Augen, Dimas Faust kommt langsam näher. Ich warte, bis seine Faust eine unsichtbare Grenze überschreitet und ich zuschlagen muss. «Eure Unterkiefer», sagt Dima, «wie ich sie liebe! Sie sind wie geschaffen für unsere Fäuste.»
«Wer ist denn wir?» Ich dachte, er meinte Juden, und erst jetzt weiß ich es besser. Ja, natürlich meinte er Juden, und Leseratten, und alle, die kein Gewaltrussisch sprechen. Für Dima sind wir Dulder, Verprügelte und Vergewaltigte oder Herabgesetzte, wie man in russischen Straflagern sagt.
Als ich anfing, über Gewalt zu schreiben, wusste ich nicht, wohin sie mich führen wird. Jetzt bin ich dort angekommen, wo das Gewaltrussische entstanden ist, im Lager. Das Schlimmste, was einem dort passieren kann, man wird herabgesetzt, vergewaltigt. Nicht nur im Lager sagt man zu Opfern sexueller Gewalt «Beleidigte», «Herabgesetzte», «Hähne», insgesamt habe ich mehr als ein Dutzend Synonyme bei Wikipedia gefunden. Wer einen Herabgesetzten auch nur berührt, wird selber einer. Auch wer aus Versehen ihr Geschirr anfasst oder ihnen auch nur zu nahe kommt, sich etwa in ihrer Barackenecke aufhält.
In dieser Ecke befindet sich das Zellenklo, und eine der schlimmen russischen Beleidigungen lautet, dein Platz ist an der Latrine. So reden heute auch russische Diplomaten, und mit der Drohung, tschetschenische Terroristen auf dem Scheißhaus kaltzumachen, war Putin Präsident geworden. «Bitte keine Eskalation, keinen Atomtod!» So klingen im Gewaltrussischen nur Herabgesetzte. Sie müssen auf ihren Platz an der Latrine geprügelt werden, mit allen Mitteln, auch mit Atomwaffen. Das ist das Grundgesetz des Lagers.
Wer es weiß, soll lieber sterben
Das russische Wort «Lager» hört sich für mich an wie das deutsche KZ, mit dem Unterschied, dass Kinder bis heute in Kinderlager geschickt werden, auf Deutsch ins Sommer-KZ. In meinem Pionierlager musste ich mich vor Schlägern fürchten, und mein Opa, der sich mit einem Hocker aus dem Lager freigeprügelt hatte, war mir kein Vorbild. Ich wollte nie vor der Wahl stehen, entweder ein Schläger oder ein Dulder zu sein, zum Schläger hatte ich ohnehin nicht das Zeug. Lasar war übrigens selbst beim NKWD, ein Generalleutnant glaube ich. Dass er freikam, war eine absolute Ausnahme, und die Regeln des Lagers kannten bei uns alle, auch die, die kein Lagerrussisch sprachen.
Zwei Diebe spielen nachts in einer Lagerbaracke Karten, einer verliert und will einen Pullover einsetzen, der einem anderen, völlig ausgemergelten Mithäftling gehört. Dieser weigert sich, bekommt ein selbstgemachtes Messer zwischen die Rippen, sein Pullover wird eingesetzt und verspielt. Das ist eine Szene aus Warlam Schalamows «Erzählungen aus Kolyma», die ich immer unheimlicher fand als die Schüsse der Aufseher oder die Hungerfolter. Meine Mitschüler erzählten, dass Diebe in unseren Lagern um das Leben anderer Häftlinge zockten, «wenn ich verliere, steche ich drei Hähne ab».
Nicht, dass viele Jungs das lustig fanden, aber es klang so, dass ich wusste: Wenn sie selbst ins Lager kommen, werden sie das auch tun. Besser, einen «Hahn» abzustechen, als selbst einer zu sein. Schalamow ist es wohl am besten gelungen, diese Gewalt aufzuschreiben. Zugleich mahnte er: «Kein Mensch sollte vom Lager wissen oder auch nur gehört haben. Das Lager bedeutet Zersetzung für alle – für Lagerführer und Gefangene, für Aufseher und für Leser von Belletristik.» Und an anderer Stelle noch deutlicher: «Im Lager gibt es vieles, was ein Mensch nicht wissen sollte, was er nicht sehen dürfte. Und wenn er es doch gesehen hat, ist es besser für ihn, zu sterben.»
Das ist ein Wissen, das heute jeder in Russland hat, ein Drittel der Männer war im Lager oder ist jetzt dort. Auch die Menschen, die sich weigerten, Gewaltrussisch zu sprechen, meine Eltern, meine Freunde, es gab so viele, und es gibt sie immer noch, und auch sie wissen im Sinne Schalamows um das Lager. Schalamow starb in einer Psychiatrie, vielleicht an seiner genetisch bedingten Krankheit, vielleicht an diesem Wissen.
Mein Vater war schon tot, als ich erfuhr, dass sie auch meinen Urgroßvater gefoltert hatten. Da war ich längst nach Berlin geflohen, hatte die russische Gewalt hinter mir gelassen, jetzt kommt sie mir nach. Sie ist hier, und hier wird sie von den deutschen Friedenstauben begrüßt. Friedensfloskeln gehen nahtlos ins Gewaltrussische über: Mehr Waffen, mehr Tod, besser ein ungerechter Frieden als ein gerechter Krieg, besser, du fügst dich, du Schöne.
Staatsexamen in Folter
Ein Mann in ukrainischer Tarnuniform windet sich auf grauer Erde, er brüllt oder stöhnt jedes Mal, wenn sich ein anderer Uniformierter mit einem Messer zu ihm herunterbeugt. Seine Hände stecken in Einweghandschuhen, sie sind leuchtend blau, am rechten Handgelenk aufgerissen.
«Pidoras!», flucht der Mann mit dem Messer. Ich höre einen leerlaufenden Motor, die unverständliche Stimme eines dritten Mannes. Die Russen sind dabei, einen ukrainischen Gefangenen zu kastrieren, und sie filmen das mit dem Handy. Die Hände des Soldaten sind auf dem Rücken gefesselt, und die Gewalt kann sich ungestört über das Stück Ukraine ausbreiten, das er bis vor kurzem verteidigt hatte, und über seinen Körper.
Auf den ersten vier Seiten von «Überwachen und Strafen» beschreibt Michel Foucault in allen Einzelheiten eine öffentliche Hinrichtung im Paris des Jahres 1757. Für seinen versuchten Königsmord wird Robert-François Damiens stundenlang gequält, und Foucault lässt die Folter in seinem Text nochmals ablaufen. Er kostet sie geradezu aus, vielleicht weil er sie ohnehin für nicht mehr zeitgemäß hält. Der ukrainische Soldat, dessen Namen ich nicht kenne, wird jetzt gefoltert, und ich lasse nicht zu, dass die Gewalt auch hier weitergeht. Ich schreibe sie nicht auf, ich übersetze sie.
Der Gefangene liegt mit dem Gesicht auf dem Boden, seine Hose ist hinten aufgeschnitten, die Unterhose auch. Er brüllt nicht mehr. Hoffentlich ist er nicht ganz bei Bewusstsein, der zweite Russe hat ihn gerade hart in den Nacken getreten. Der Mann mit Handschuhen kann ruhig weiterschneiden.
Nur vier Jahre nachdem das Pariser Publikum die Vierteilung von Damiens bejubelt hatte, erscheint «Julie ou la Nouvelle Héloïse» und wird bald zum Bestseller des Jahrhunderts. Alles geschieht zur selben Zeit, im selben Raum. Mein Vater hatte recht, länger als für 100 Seiten am Tag kann man sich sowieso nicht verstecken.
«Der hat sich ja bis zum Äußersten gesträubt», stellt der zweite Russe fest. «Ach, sag mal», fährt er fort, «was ist mit Arbeitshandschuhen, haben wir keine?» Die Latexhandschuhe des anderen Mannes sind so dünn, auch noch zerrissen, er muss sich ja ekeln vor seiner Arbeit der Gewalt.
Anders als bei öffentlichen Hinrichtungen im alten Paris oder Moskau wird der ukrainische Soldat nicht für eine Show gefoltert. Die Russen stellen ihr Video online, wie jemand sein Prüfungszeugnis an die Wand hängt: Schaut her, wir gehören zur «russischen Welt». Das ist die Selbstbezeichnung des Sprachraums, in dem Gewaltrussisch gesprochen wird. Seine Grenzen enden nirgendwo, sagt Putin, und die Friedenstauben signalisieren Verständnis, wollen «Partner sein» mit Russland, sind es schon, haben sich fügsam gezeigt. Die Russen filmen weiter.
«Da hast du’s, du Kinderschänder», kommentiert der mit blauen Handschuhen. Ich glaube, auch einer wie er kann nicht ohne Rechtfertigung aushalten, was die Gewalt ihm abverlangt. Egal, wie absurd, er braucht eine. Der Gefangene lebt nicht mehr. Die Russen nennen sich Brüder, sie machen sich über seine Leiche her. Die Gewalt endet nirgendwo, und der tote ukrainische Soldat kann sie nicht mehr aufhalten.
© »Böse ist gut – Einübung ins Gewaltrussische« Neue Zürcher Zeitung, 11. März 2023
»Fremdsprachenstunde für Friedenstauben« Tagesspiegel, 31. März 2023