Die russische Schuld

Bevor Russland die Ukraine überfiel, schrieb ich ein Buch über Paul Celan. Seitdem kann ich nur noch eins: verfolgen, wie sich die Ukrainer wehren, auf dem Schlachtfeld und in den sozialen Netzwerken. Gleich in der ersten Kriegswoche fiel mir etwas auf, was auch schon Celan erlebt hatte. Das werde ich hier aufschreiben.

Beide Eltern Celans waren als Juden im KZ getötet worden, und im Nachkriegsdeutschland fühlte sich kaum jemand dafür schuldig. Celans Leser und Freunde sahen sich in erster Linie selbst als Opfer Hitlers, der Royal Air Force, der Siegerjustiz. In den ukrainischen Bombenkellern, wenn es dort Netzempfang gibt, können die Leute lesen, wie sich ihre russischen Freunde auf allen Kanälen darüber beklagen, dass ihr Berufsleben von Putin zerstört wurde und wie sie unter den westlichen Wirtschaftssanktionen leiden, die sie manchmal als „Teppichbombardierungen“ bezeichnen. Die Menschen in Kyjiw oder Charkiw schicken ihnen Bilder und Videos, Trümmerstraßen und Leichen. Hat das Putin wirklich allein getan? fragen sie, und die Russen, die bis vor einigen Wochen ihre Kollegen oder Geschäftspartner waren, schießen mit Zitaten von Hannah Arendt zurück. Kollektivschuld diene nur dazu, die wahren Schuldigen zu entlasten. Sie selbst seien ja immer gegen Putin gewesen und jetzt würden sie gecancelt, ihr Paypal gesperrt, ihre Honorare auf Patreon unzugänglich gemacht.

1958, als Paul Celan seine Gedichte an der Uni Bonn las, zeichneten die Studenten eine antisemitische Karikatur über ihn und brachten sie in Umlauf. Celan schrieb darüber seinem Freund Heinrich Böll und bat ihn um Hilfe. Böll antwortete mit einer Postkarte, er habe keine Zeit, er müsse ein Romanmanuskript abschließen, das auch eine Antwort an Celan enthalten würde. In diesem Roman „Billard um halb zehn“ sind Juden fast vollständig abwesend, Bölls Mitleid galt ungeteilt den guten Deutschen, die von den anderen Deutschen, die vom „Sakrament des Büffels“ gekostet hatten, schikaniert, in den Krieg geschickt, ausgepeitscht und hingerichtet wurden. Ich glaube, Celan erwartete von Böll oder anderen deutschen Freunden keine Buße, vielmehr hoffte er vielleicht einfach auf ein stilles Entsetzen angesichts millionenfacher Morde. Doch niemand von ihnen schien sich diese einfache Frage zu stellen: Bin vielleicht auch ich selbst nicht unschuldig? Habe ich jemals, wenn auch nur beiläufig, etwas gegen die Juden gesagt oder getan? Oder jemals die verlorene Größe Deutschlands beklagt?

Im Krieg gegen die Ukraine hat die Nachkriegszeit bereits begonnen, zumindest für uns, die nicht oder noch nicht in die Schusslinie geraten sind. Bilder und Stimmen der Opfer und der Mörder brauchen keine Jahre, oft nur Minuten, um mich zu erreichen. Sie sind da, und ich frage mich, ob ich mich nun zu den guten Russen zählen möchte, die jetzt allen erzählen, dass sie immer gegen Putin waren, dass sie seine Geiseln, seine Opfer seien, genau wie die Ukrainer. Mir stellt sich eine andere Frage: Habe ich jemals, wenn auch nur beiläufig, etwas gesagt, getan, geteilt, was zu diesem Krieg geführt hat? Die Antwort ist: Ja.

 

Krystyna

„Ich bitte um Entschuldigung“, sage ich auf Russisch gleich im Flur meiner Berliner Wohnung, aber Krystyna, die erst vor wenigen Tagen mit zwei Kindern aus Kyjiw geflohen ist, lässt mich nicht ausreden. Sie spricht Ukrainisch, weil ihr die russische Floskel nicht einfällt, nichoho ne mozhemo zrobyty, nichts können wir tun. Ich versuche, ihr dennoch zu erzählen, dass ich vor bald dreißig Jahren von Moskau nach Berlin gezogen bin, dass ich ein Buch gegen Putin geschrieben habe. Krystyna nickt, sie will nicht, dass ich mich schuldig fühle, dann wiederholt sie, dass wir nichts für den Krieg können. Was ich aber kann, ist, Krystyna, die übrigens anders heißt, mit der Wohnung und einer Handykarte zu helfen, meine Entschuldigung nutzt ihr nichts. Es ist ohnehin verlogen, sich zu entschuldigen, ohne sagen zu können, wofür. Besser gar nichts sagen, schweigen, das kann ich aber auch nicht. Ich kann nicht über Paul Celan schreiben und zugleich die Haltung seines deutschen Umfelds annehmen, die ihn mit in den Selbstmord getrieben hatte: Ich war’s nicht, der Führer ist es gewesen. Ein Vernichtungskrieg wie der russische Überfall der Ukraine ist aus einem Wahn gewachsen, und ob ich’s wollte oder nicht – ich steckte mittendrin.

 

Der Siegeswahn

Ich bin in Moskau, im Zentrum einer militaristischen Sekte aufgewachsen, die einen längst vergangenen Kriegssieg anbetete. Wir Schüler standen an Soldatendenkmälern Spalier, wir marschierten bei Siegesparaden, Kriegslieder im Chor singend. Ich hätte wohl darüber gelacht, doch ich sah, wie todernst die Erwachsenen diesen Krieg nahmen, sogar meine Eltern, die sonst alles verabscheuten, was von der Obrigkeit kam. Am schlimmsten war der Feiertag des Sieges am 9. Mai. Zuhause klingelte ständig das Telefon. Mein Vater nahm den Hörer ab, sagte, Euch auch, oder Ihnen auch. Er rief auch selbst Bekannte an, und statt "Hallo" hörte ich ihn sagen, S dnjem pobedy, alles Gute zum Tag des Sieges! Von allen Verwandten und Freunden, die meine Eltern anriefen, war nur Tante Katja im Krieg gewesen, mein Großvater ist dort gefallen, wie Millionen andere. All diese Toten leisteten ihren Kriegsdienst jedoch weiter, in immer neuen Kriegen, bis heute.

Sicherlich hat Hannah Arendt Recht, wenn sie sagt: Wo alle schuldig sind, ist es keiner. Trotzdem gibt es eine Schuld, die zu gering für Gesetzbücher ist. Ich weiß nicht erst seit gestern, nicht seit dem Tag des Ukraineüberfalls, wozu der Siegeskult da war, und dennoch habe auch ich meinen Verwandten jedes Jahr „zum Tag des Sieges“ gratuliert. Ich habe die Ansteckungskette des Kriegswahns nicht unterbrochen, ich kenne niemanden, der das getan hätte. Aus Hundertmillionen sowjetischer Siegesglückwünsche sind Schüsse auf die Ukrainer geworden, und darunter waren ein paar Dutzend meine.

 

Obida

In einer frühen Erzählung von Heinrich Böll schreibt ein Schüler das Wort Gerächtigkeit mit einem ä, abgeleitet von Rache. Das leuchtet mir sofort ein, auch Russland leitet sich von Rache ab, von seiner Rache an den Westen. Auf Russisch nennt man es Obida, eine Mischung aus Beleidigtsein und Rachsucht. Es ist in Russland ein Allgemeinplatz, dass „sie“, die Westler, „uns nicht mögen“. Das wird heute in Talkshows als der eigentliche Kriegsgrund formuliert, und ohne diese tiefsitzende Rachsucht – das Wort Ressentiment kratzt nur an der Oberfläche – hätten die meisten Russen den Ukrainekrieg nicht unterstützt, der nicht allein für Putin ein Krieg gegen den Westen ist. Ich weiß nicht, wann diese Obsession entstand, aber ich erinnere mich noch gut, wie ich mich als Jugendlicher von heimatverliebten Gedichten Fjodor Tjutschews hatte einlullen lassen. Das arme Russland würde von hochmütigen Fremdländern „nicht verstanden, nicht geschätzt“. Ich weiß noch, wie es sich anfühlte, sich vom Westen ungeliebt zu fühlen, von dem ich damals keine Ahnung hatte. Übrigens war Tjutschew im russischen Auslandsamt tätig, und er war auch derjenige, der den politischen Begriff „Russophobie“ geprägt hat.

Nach dem Ukraineüberfall habe ich mir meine alten Artikel herausgeholt, und wie ich befürchtet habe, sind nicht alle gut gealtert. Am Anfang des zweiten Tschetschenienkrieges veröffentlichte ich einen Text über die westliche Russophobie. Ich machte mich lustig über Ronald Reagan für seinen Spruch, die Sowjetunion sei das Reich des Bösen, und ich griff André Glucksmann an. Der französische Philosoph wollte damals Sanktionen wegen der russischen Kriegsverbrechen in Tschetschenien durchsetzen. Ich habe die Kriegsverbrechen nicht verharmlost, und doch stellte ich Glucksmanns Forderung als russlandfeindlich dar. Ich schrieb, dass sich im Westen der böse Russlandmythos durchgesetzt habe: „Blut statt Poesie, Kalaschnikow statt Balalaika“. Mein Artikel wurde in Russland übersetzt, weil er so gut die gierige russische Obida – das Beleidigtsein – nährte. Er feuerte den damaligen Krieg genauso an wie das modische Narrativ über Russland als Opfer des kolonialen Blicks den heutigen Krieg anfeuert, und auch ich habe etwas Öl in diesen Erdbrand geschüttet.

 

Die Moskali

Im Jahr der Krim-Annexion, in der Berliner Küche eines guten Freundes, der kurz davor aus Russland ausgewandert war, fragte ich in die Gästerunde – es war noch ein Journalist und ein Komponist dabei, beide aus Russland –: „wann seid ihr denn aus Moskau weggezogen?“ Ich meinte, ob sie den Ukraineüberfall von 2014 vorausgeahnt hätten oder erst danach geflohen seien. Eigentlich, antwortet der Komponist, komme er aus St. Petersburg. Der Journalist kam aus Sibirien. „Ist dir bewusst“, sagte der Gastgeber, der auf der Krim geboren wurde, „dass du hier der einzige Moskauer bist?“ In diesem Moment war mir meine hauptstädtische Arroganz einfach peinlich.

Heute weiß ich es besser. Ich hatte damals seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland gelebt und dennoch hatte ich in mir, in meiner Sprache das Moskau-Virus getragen. Im Ukrainischen, im Belarussischen und im Polnischen gibt es ein Wort für den größenwahnsinnigen Russen: Moskal. So hießen ursprünglich alle Soldaten und Beamte des Zaren, auch wenn sie aus St. Petersburg befehligt wurden. Leute, die bewusst oder unbewusst die Sprache der Großmacht sprachen. Natürlich sind heute nicht alle Russen und nicht alle Moskauer in diesem Sinne Moskali, politisch bin ich gewiss keiner, doch erst jetzt wird mir klar, wie oft ich wie ein Moskal gesprochen haben muss. Selbstvorwürfe nützen im Krieg nichts, doch hätte Russland nach dem Tod Stalins oder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen nüchternen Blick auf sich selbst geworfen, dann würden sich die Moskali heute wahrscheinlich keine anderen Länder einverleiben wollen.

 

Todbringende Rede

„Wir fetten die Pfanne meistens mit einem Stück Speck ein“, sagt Krystyna, als wir zusammen Pfannkuchen machen. Sie schaut mich etwas unsicher an, weil sie weiß, dass die Ukrainer auf Russisch gern als tölpelhafte Speckfresser verhöhnt werden. Ich halte ihren Blick nicht aus. Krystyna meint, dass wir natürlich auch Öl nehmen können, und ihre Stimme klingt genauso wie die Stimmen aus den Kriegsvideos, ein weiches h, ein frikatives g. In meinem Ohr klang dieses ukrainische Russisch früher tatsächlich irgendwie roh und ungebildet, es roch nach Schnaps und Kohl und Speck. In der russischen Literatur wurde die ukrainische Sprache „kleinrussisches Idiom“ genannt, weil die Ukraine ja für sie nur Kleinrussland war, Russland Großrussland hieß und sie selbst noch als die große russische Literatur galt.

Auch meine Sprache muss für Krystyna befremdlich klingen. Ich spreche ein Imperialrussisch mit langgezogenem a statt o, wie man es in Moskau spricht, in Maaskwaa. Es ist auch bereits ein bisschen eingerostet, und wenn mir beim Pfannkuchenbacken ein russisches Wort nicht gleich einfällt, hilft mir Krystyna, für die Russisch eine Zweitsprache ist, immer wieder auf die Sprünge: Schöpflöffel, Mobilfunkanbieter, Raketeneinschlag. Danke, sage ich zu ihr, und ich versuche, das a schnell auszuspucken. Den Akzent, den Krystyna hat, höre ich nicht mehr.

Es fällt mir jetzt nicht schwer, Abstand von meinem Russisch und vom Russischen zu nehmen. Ich schreibe ja in einer anderen Sprache, wenn auch mit russischem Akzent. Für Paul Celan war Deutsch die Sprache seiner Dichtung und zugleich die Sprache der Mörder seiner Mutter. Er sprach einmal von einer „todbringenden Rede“ im Deutschen, die den Krieg und die Shoah mitverursacht hatte. Deutsche Gedichte musste er „als ein Verbrannter schreiben“. Schließlich verbrannte Celan daran auch wirklich, nur nicht wörtlich, er ging ins Wasser, in die Seine, und seine Sprache rettete er herüber in unsere Zeit.

In meiner Muttersprache gibt es auch eine todbringende Rede. Die russische Amtssprache, die den tödlichen Patriotismus verbreitet, scheint zugleich Angst vor sich selbst zu haben. Statt Explosion sagt sie Knall, Rauchentwicklung statt Brand, Negativwachstum statt Rezession. Selbst die Gegner Putins sprechen dieses verängstigte Russisch, und wenn sie aus Russland fliehen müssen, dann fahren sie nicht weg, sie hauen nicht ab, sondern sie relozieren sich. Es war nicht wirklich nötig, das Wort „Krieg“ unter Strafe zu stellen, die Sprache traut sich ohnehin nichts.

Es gibt noch ein anderes als dieses russische Russisch, vielleicht sogar in Russland selbst, aber neulich fand ich es in der Ukraine. Hier kann die Sprache wahr sein, sie kann aussprechen, was Sprachen sonst kaum aussprechen können, was sie in Russland nicht aussprechen darf. Ich übersetze es so gut ich kann. Ein Mann, er heißt Tolik, schrieb einen Zettel an einen Dima, wahrscheinlich seinen Sohn. Tolik ist in Mariupol unter russischem Beschuss geblieben, den Zettel hat er jemandem mitgegeben, der fliehen konnte. „Dima [Nachname] Tel: [Mobilnummer] / Der Sohn von Tolik [Straßenname] 5 Whg. 57 / Bitte ausrichten: Mama ist am 9. März 2022 ums Leben gekommen. Sie starb schnell. Dann brannte das Haus ab. Dima verzeih mir, dass ich sie nicht schützen konnte. Ich habe Mama neben dem Kindergarten begraben.“

Tolik sagt wörtlich, am Kindergärtchen, so wie man mit Kindern spricht, und über die Mutter schreibt er, sie sei gefallen, das kann auf Russisch nicht nur Soldaten passieren. Weiter schreibt er nichts, er zeichnet einen Plan, den Hof eines Wohnhauses, der auch zu meinem Kindheitshaus in Moskau passen würde: der Kindergartenzaun, eine Wärmefernleitung, Baum, Baum, Baum und dann ein kleines Viereck mit der Markierung für die Tiefe, 2,0 m. Unten auf dem Blatt ist noch Platz, Tolik fügt etwas hinzu, was sich nach diesen Nichtworten gerade noch schreiben lässt, ein Ich liebe dich.


© »Die russische Schuld«  Frankfurter Allgemeie Sonntagszeitung Nr. 21,   29. Mai 2022
    »Alles ist teurer als ukrainisches Leben«, Edition.fotoTAPETA, Berlin 2023, S. 140

Published on  November 27th, 2024

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