Essays und Kurzprosa
Die Sprache des Pogroms. ZEIT 2024
Als mir zum ersten Mal sexualisierte Gewalt angedroht wurde, war ich 17. "Sexualisiert" trifft es eigentlich nicht, das lässt selbst die unsäglichen Qualen des 7. Oktober steril erscheinen. Für mich klingt dieses Wort jedenfalls so, als hätte sich das, was ich mit 17 erlebt habe, in einer akademischen Studie abgespielt und nicht auf einer Großbaustelle in Moskau. Die Baustelle war eine riesige Brache, bedeckt mit hellbraunem Schlamm, zerfurcht von den Rädern und Ketten der Baumaschinen. Mittendrin das Gerüst unseres zukünftigen Studentenwohnheims, und in einem Bauwagen daneben wir Erstsemestler. Im sowjetischen Arbeiterstaat fehlten Arbeiter, und die Studenten mussten bei der Ernte oder auf dem Bau aushelfen. So kam ich auf diese Baustelle. Es war der erste Tag des ersten Semesters, und ich konnte es kaum erwarten, endlich Gleichgesinnte zu treffen, mit denen ich Kunst studieren sollte. Was dann auf dieser Baustelle passiert war, daran wollte ich lange nicht mehr denken, sehr lange, bis zum Oktober 2023.
Keiner fällt den Mördern ins Wort. FAS 2024
Ein Student aus dem Elsass kommt nach Paris, er liebt die Poesie, wird bei der Witwe eines berühmten Dichters zum Essen eingeladen, spricht mit ihr und ihrem Sohn bis tief in die Nacht, und diese Nacht verändert sein Leben. Das ist nicht der Anfang eines Balzac-Romans, der Student heißt Bertrand Badiou, die Dichterwitwe ist die Künstlerin Gisèle Celan-Lestrange. Badiou erzählte mir von ihrer Begegnung, als ich ihn vor zwei Jahren in Paris traf, um für meinen Roman über Celan zu recherchieren, kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine und lange vor dem jüngsten Massaker in Israel..
Als ich Juden nicht riechen konnte. NZZ 2023
Meine Eltern hatten keine Menora, und ich kannte das Wort nicht, bis ich selbst eine kaufte, bei einem türkischen Trödler in Berlin, noch Mitte der Neunzigerjahre, etwa zur gleichen Zeit, als ich mir ein Palästinensertuch zulegte. Der siebenarmige Leuchter stand auf dem Kachelofen, das Tuch trug ich wie einen Schal um den Hals. In meiner Straße in Kreuzberg lief damals fast zu jeder Tageszeit jemand mit einem, wie wir sagten, Pali herum, und ich bin mitgelaufen, nicht weit, nur bis zur nächsten Kneipe. Aber andere liefen weiter, es war ein langer Weg, und erst in den letzten Wochen wurde mir klar, wohin er geführt hat. In den Kibbuz Be’eri, in das erste Haus, das die freiwilligen Ersthelfer von ZAKA Search and Rescue dort aufsuchten.
Liebes Russland. FAS 2023
Sie umstellen mich, fünf oder sechs junge Männer in Felduniform, ich rieche alten Schweiß, höre: „Gleich gibt's was auf die Nieren, bis du Blut pisst“. Dann zerren sie mich, so stellte ich es mir vor, in die Toilette ihrer Kaserne, drücken meinen Kopf in die Kloschüssel. Etwa eine halbe Stunde später werde ich mit inneren und äußeren Verletzungen, die ich hier nicht aufzähle, auf dem nassen Fliesenboden, wie sie es nennen, verrecken. Ich war 17 Jahre alt und ich dachte, ich würde mein nächstes Lebensjahr nicht überleben.
Fremdsprachenstunde für Friedenstauben. NZZ 2023, Tagesspiegel 2023
Ich schaue vom Rand einer Grube auf hineingeworfene Leichen, und ich frage mich, ob der junge Mann, der nur einen Gummistiefel trägt, gegen die russische Armee gekämpft hat und ob die Frau neben ihm wirklich Zivilistin war. Trainingshosen, alte Socken, bunte Kopftücher. Die Grube liegt irgendwo in Grosny, es ist Februar 1995, zwischen halbzerstörten Wohnblocks ist niemand zu sehen, die Russen schiessen auf Passanten. Neben der Grube sehe ich mehr Tote, es stinkt, und heute bin ich angewidert von mir selbst, wie ich da stehe und mich nicht auch mitgestorben, miterschossen fühle.
Rettet Russland. NZZ 2023
Ohne einen Bruch mit sich selbst kann in Russland nur das entstehen, was nach allen historischen Umbrüchen, Revolutionen und Restaurationen immer wieder auferstanden ist: ein mörderisches Wir.
Meinst du. die Russen wollen Krieg? NZZ 2014-23
1974 starb ein Mann, der wohl mehr Menschen in den Tod geschickt hat als jeder andere Russe im Jahrhundert des massenhaften Tötens.
Die russische Schuld. FAS 2022
Im Krieg gegen die Ukraine hat die Nachkriegszeit bereits begonnen, zumindest für uns, die nicht oder noch nicht in die Schusslinie geraten sind. Bilder und Stimmen der Opfer und der Mörder brauchen keine Jahre, oft nur Minuten, um mich zu erreichen. Sie sind da, und ich frage mich, ob ich mich nun zu den guten Russen zählen möchte, die jetzt allen erzählen, dass sie immer gegen Putin waren, dass sie seine Geiseln, sein Opfer seien, genau wie die Ukrainer. Mir stellt sich eine andere Frage: habe ich jemals, wenn auch nur beiläufig, etwas gesagt, getan, geteilt, was zu diesem Krieg geführt hat? Die Antwort ist: Ja.
Evakuiert. Stolperworte 2021
Jetzt sind Menschen im Frachtraum, auch Nora und Papa, und über ihren Köpfen werden Metallluken geschlossen, sie gehen knatternd und dann mit einem lauten Knall zu, sie sind rostig, was man in der Dunkelheit des Frachtraums nicht mehr erkennt. Das sind aber nur erwartbare Details, ein Leerlauf der Literatur. Was in diesem Frachtraum wirklich passiert, lässt sich nicht realistisch erzählen, weil dort kein Erzähler je wieder rauskommt. Ich habe von mehreren Lastschiffen mit Häftlingen gehört, die versenkt worden waren, in der Wolga, in der Kama, im Ob, im Jenissej. Ein wertvolles Know-How auch für die deutschen Einsatzgruppen. Es gibt Flüsse wie die Seine, in die man alleine geht, und Flüsse wie die Moskva, wo es einen rostigen Lastkahn braucht.
Macht der Musik, Musik der Macht. Accentus Music 2019
"Wir kamen eben zu einer Mühle und zu einer Brücke über einen rauschenden Bach, als ich ihm darlegte, die Arien und Choräle der Matthäuspassion [Bachs] drückten eine persönlichere, substantiellere Frömmigkeit aus als der transzendente Stil der Missa Solemnis [Beethovens]. Darauf er: "Jedenfalls ich kann das moderne sentimentale Archaisieren nicht mitmachen. Wenn du so denkst, können wir nicht weiter zusammen wandern“, rief seinen [Hund] Boxl, der uns begleitete, und schickte sich an, einen Seitenweg einzuschlagen."
Das potjomkinsche Paradies. ZEIT 2017
Nach kaiserlichem Willen, nach Weisung des Generalsekretärs sollte man an diesem Ort glücklich sein. Und ich war hier glücklich. Glücklich waren auch meine Eltern, glücklich war ihre Freundin, die sich aus dem Busfenster lehnte und rief: “Ach, der Oleander! und die Luft, die Luft!” Wir fuhren in einem Trolleybus auf der längsten Oberleitungsbus-Linie der Welt, drei Stunden vom Eisenbahnhof in Simferopol zum Meer.
Die Politinformation. taz 2017
Als ich zum letzten Mal die Öffentlichkeit bewusst belogen habe, war ich 19 Jahre alt und stand kurz vor dem Rausschmiss aus meiner Moskauer Hochschule.
Krise der Wahrheit. NZZ 2016
Das ist der postmoderne Pop - Tatsachen nicht von Lügen unterscheiden zu wollen.
Mein Feind, die Revolution. ZEIT 2015
Es gibt viele Gründe, eine Revolution abzulehnen. Man kann zu konservativ, zu bodenständig oder einfach zu alt dafür sein. Was ich mir aber bisher nicht vorstellen konnte, ist, dass man zu links für eine Revolution sein kann.
Kadaver auf Urlaub. NZZ 2015
Die Emigration holte mich ein, ohne dass ich einen Fuß vor die Tür gesetzt hätte. Sie kam über mich in Gestalt einer Frau mit grünem Lidschatten, einer langen Zigarette in der Hand und gerümpfter Nase. Das sollte ich sein, der «Emigrant Schumatsky».
Russland ist eine Lüge. DIE ZEIT 2014
Die wohl größte Schwierigkeit im Umgang mit Russland ist dies: Russland lügt.
Tod in Moskau. FAZ 2014
Anfang dieses Jahres, zwei Monate nach dem Tod meines Vaters, schoss sich in Moskau ein pensionierter Admiral in den Kopf. Wie mein Vater war er krebskrank.
Die Russen gibt es nicht. ZEIT ONLINE 2014
Schon einmal war ich Berufsrusse. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als ich nach Deutschland kam, richtete ich mich recht gemütlich in einer Nische auf dem Medienmarkt ein. Ich war die junge, authentische russische Stimme, die die alten Klischees über ihr Land widerlegte. Es ist Wladimir Putin zu verdanken, dass ich wieder in meine alten, aus der Mode gekommenen Schuhe schlüpfen muss.
Präsidentenkino, 1937 und 2007. NZZ 5.05.2008
Die folgende Geschichte, in der zwei Film-Vorvisionierungen im Stil der Montage parallel erzählt werden, wirft ein Licht auf die neuen alten Machtverhältnisse im Kreml.
Die Vertikale der Macht. NZZ 3.05.2004
Am Ende der Aufklärung? Russlands Kultur und der neue Autoritarismus. NZZ 11.02.2004
Bruder Putin. Süddeutsche Zeitung 25.03.2000
Mit Jeanne d'Arc nach Grosny. taz 17.3.1995
Der Schriftsteller Stefan Heym und die Macht. taz 08.11.1994
Seele und Balalaika Von der seltsamen Anhänglichkeit Boris Pasternaks an Stalins Rußland. taz 19.09.1994
Alexander Solschenizyn. Der grosse Schriftsteller kehrt zurück. Weltwoche 1994
Gorbatschows Happening Oder: Requiem für die Sowjetunion. taz 8.01.1992
Bilder eines Endes. taz 31.08.1991
Der Staatsstreich in der Sowjetunion, das letzte Kunstwerk des Sozialistischen Realismus
Sots-Art gegn Soz-Real Soziale Konzeptkunst in der Sowjetunion. taz 01.06.1991