Bilder eines Endes
Der Staatsstreich in der Sowjetunion. Das letzte Kunstwerk des Sozialistischen Realismus
"Wach auf, du lebst jetzt in einem anderen Land", stürmte meine Mutter ins Zimmer. "Gorbatschow ist abgesetzt, Militärputsch!" Wieder diese Panik, dachte ich zuerst, weil die Generation meiner Eltern geneigt ist, immer und überall die Wiederkehr des Stalinismus zu sehen. Die Zeit aber hat sich längst geändert, an Verhaftungen und Erschießungen kann man schon nicht mehr glauben. Im Nachhinein ist klar, daß meine erste Reaktion vollkommen richtig war: einfach nicht zu glauben.
Der berühmte russische Theaterregisseur Konstantin Stanislawski sagte, wenn er mit dem Spiel der Schauspieler unzufrieden war: "Ich glaube es nicht." Stanislawski gilt als Begründer des Sozialistischen Realismus im Theater, demnach die Kunst glaubhaft zu sein und dem Volk zu dienen hat. Josef Stalin war großer Anhänger des "Stanislawski-Systems"; Stalin war auch Schöpfer seines eigenen Systems, eines, das der Kunsthistoriker Boris Groys "Gesamtkunstwerk Stalin" genannt hat. Auch Stalin war ein guter Regisseur und zugleich ein guter Darsteller - man glaubte ihm.
Am frühen Morgen des ersten Staatsstreichtages war überall die Hand dieses großen Künstlers zu erkennen. In regelmäßigen Abständen wurde eine Ansprache der Putschisten gesendet und dazwischen schöne klassische Musik. Innerhalb der total codifizierten Kultur des Sozialistischen Realismus war sie ein eindeutiges Zeichen: etwas ist los, eine Katastrophe, Kriegsausbruch oder sogar eine Veränderung an der Spitze der Macht. Es erklang Schwanensee von Tschaikowsky, dann Elegisches Trio von Rachmaninow - die Auswahl kennen wir. Die Sender haben Listen mit Musik für verschiedene Fälle, Musik, die man sendet, während die Regierung noch entscheidet, ob der Führer schon gestorben ist. In den vergangenen acht Jahren haben wir das dreimal erlebt: Breschnew, Andropow, Tschernenko - und jetzt also Gorbatschow.
Schon die Wortwahl der Ansprache des Notstandkomitees ließ keinen Zweifel an der Realität des Geschehens zu - das war die Sprache des Sozialistischen Realismus: "In Beantwortung der Wünsche der Werktätigen" und "Der Stolz des Sowjetmenschen" wurden darin bemüht, die "wütende Verspottung aller Institutionen des Staats" und die "Propaganda von Sex und Gewalt, die das Leben und die Gesundheit zukünftiger Generationen bedroht". Besonders beeindruckend, ja wahrheitsgetreu und "realistisch" war schon der Name des Komitees für den Ausnahmezustand, diese unaussprechliche Abbreviatur, G.K.TSCH.P. Das kam uns sehr bekannt vor: K.G.B. und G.P.U. und TSCH.K. (alles Staatssicherheit), R.S.D.R.P., W.K.P.B., K.P.D.S.U. (die Partei). Der Name war ein Appel an unser Kollektivgedächtnis, an etwas, das wir mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Wie konnte man diesem unaussprechlichen G.K.TSCH.P. nicht glauben? Alles war ja sehr gut gespielt. Stanislawski wäre zufrieden. Stalin wäre zufrieden.
Falsche Details und die Hauptdarsteller hatten ihren Text vergessen
Schon wieder klingelte das Telefon, klingelte unaufhörlich den ganzen Vormittag lang. Die älteren Leute, die sich noch an die Ära Stalin erinnern, fragten nur: "Habt ihr heute Radio gehört?" und wollten nichts besprechen, nicht am Telefon. Aus meinem Fenster sah ich tatsächlich eine Kolonne schwerer Panzer. Ansonsten war alles wie immer, alles "ging seinen sozialistischen Gang". Die Werktätigen auf der Straße und am Arbeitsplatz schienen gar nicht unzufrieden zu sein. "Man hat mir gesagt, das ist nur eine Umstellung an der Spitze der Macht", sagte eine Mitarbeiterin des Künstlerverbandes - die Spielkunst der neuen Machthaber hat sie wohl sehr beeindruckt. "Was hat man euch genommen - nichts!" schrie mich eine Frau aus der Schlange im Lebensmittelgeschäft an, sicher ein "echter Sowjetmensch". Ein anderer sagte: "Endlich kommt die Ordnung. Ich bin jetzt im Geschäft, nur weil ich Mittagspause habe, aber in einer halben Stunde", und er zeigte auf die Uhr, "bin ich wieder auf meinem Arbeitsplatz." An diesem Vormittag spielten viele Amateure den Politprofis sehr gut zu. Der Realismus des Bildes war unumstritten: Die Massen der Sowjetmenschen unterstützen das Notstandkomitee und versprechen, "den Aufruf der Partei mit Stoßarbeit zu begrüßen". Das war wirklich ein Meisterwerk des Sozialistischen Realismus. Zwar fehlten noch die "Feinde des Volkes", aber viele Leute wie meine Mutter waren ja schon innerlich bereit, diese Rolle zu übernehmen.
Dann merkte ich etwas. Die Aufführung war in einem Detail, in einer Kleinigkeit nicht stimmig. Die Panzer standen an der Ampel. Aber in dem berühmten Lied sang man doch: "Die Panzerung ist fest, und unsre Panzer sind schnell, wenn Genosse Stalin uns ins Gefecht schickt." Jetzt aber warteten sie artig neben Ladas und Wolgas. Auch mit der Musik stimmte etwas nicht: Man brachte einen fröhlichen Walzer. Das war miserabel im Verhältnis zu anderen präzis ausgeführten Details des Stücks. Und wo blieben die Hauptdarsteller? Hatten sie den Text vergessen?
Man wartete auf das offizielle Fernsehprogramm Wremja. Was dort kommen würde, war eigentlich bekannt, jeder kannte den Ablauf: Zuerst eine Nachrichtensprecherin, die eine in den dreißiger Jahren entwickelte Sprechkunst beherrscht. Das war eigentümlicher sozialistischer Sprechstil, kalter Realismus der Macht. Stalin zeichnete diese Sprecher mit dem Titel Volkskünstler der Sowjetunion aus - wie zum Beispiel auch Stanislawski und seine Schauspieler. Und der Stimme der Macht würde dann die Stimme des sowjetischen Volkes folgen. Diese Stimmen kannten wir ebenfalls: Kriegsveteranen aus Leningrad und Textilarbeiterinnen aus Usbekistan werden das Notstandkomitee begrüßen. Und die Regierungen der Bruderländer werden auch alles begrüßen. Und dann - endlich - werden wir auch die Helden des Tages sehen.
Was in Wirklichkeit geschah, war verblüffend: Der Stil war absolut falsch, die Stimmen gebrochen, die Blicke erstarrt. Die Nachrichtensprecher zuckten zusammen und verzogen das Gesicht. Das waren keine Künstler des Volkes mehr, eher eingeschüchterte Pensionäre. Stanislawski hätte gesagt: "Ich glaube das nicht." Und dann zeigte ein junger Fernsehjournalist die Barrikaden. Unverkennbar - das war Sabotage. Die Panzer, die sich "in wütenden Marsch setzen, wenn Genosse Stalin sie ins Gefecht schickt", standen still, mit Demonstranten auf der Panzerung und mit Rosen in den Kanonen. Was aber später geschah, war pure Blasphemie: Boris Jelzin auf dem Panzer! Ein Lieblingsmotiv des Sozialistischen Realismus: Lenin steht auf dem Panzerwagen und hält eine grundlegende Rede. Wollte man die Bilder des Sozialistischen Realismus gegen den Sozialismus selbst wenden? Und wo blieben die Solidaritätsadressen der "Bruderländer"? Es meldeten sich nur Irak und Libyen. Wir haben doch so viel für Kuba getan, warum schwieg sich Genosse Fidel Castro aus?
Die Aufführung war endgültig verpatzt, als die Schüler des Generalissimus Stalin am Abend des ersten Putschtages eine Pressekonferenz abhielten. Waren diese Puppen wirklich unsere neuen Führer? Oder nur Marionetten, und der Führer versteckte sich? Aber warum? Und warum ließ er das alles zu: die zitternden Hände eines alten Alkoholikers beim Komiteevorsitzenden Janajew, starre Mienen, unstete Blicke, nervöse Zuckungen und auch noch Schnupfen! Es war einfach zum Lachen. Es war kein Sozialistischer Realismus, sondern surreal. Sehr realistisch war allein das Wetter: Regen und Nebel, eine ausgezeichnete Szenerie. Man war zum Trauerspiel eingeladen, stattdessen aber sahen wir eine geschmacklose Farce. Schon an diesem Abend war die Aufführung verpatzt. "Onanist Janajew - zur Verantwortung", schrieb das Volk auf den Mauern - die zitternden Hände erweckten solche Assoziationen. Es war außerordentlich schlechte Kunst, kein Sozialistischer Realismus, sondern sozialistischer Idiotismus. Die Zuschauer standen auf und gingen.
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© taz, 31. August 1991