Die Krise der Wahrheit
Ohne die Postmoderne würde ich wohl noch in Russland leben, und ich würde wahrscheinlich wie viele dort glauben, dass die ukrainische Krim meinem Volk gehört. Doch auch wenn ich in Europas Westen geboren wäre, wäre mir heute möglicherweise angst und bang um das eigene Volk, wenn Foucault, Derrida und Co. an mir vorbeigegangen wären. Aber glücklicherweise hat das poststrukturalistische Denken alle, die es wollten, aus den Fesseln nationaler Identitäten oder fixer Geschlechterrollen erlöst. Ich ging aus Moskau weg nach Berlin, in die befreiende Postmoderne, und doch finde ich mich heute in einer Welt wieder, in der Millionen Menschen sich kollektiven Trugbildern unterwerfen: Finstere Eliten, denken sie, wollen sie "umvolken", und in meinem Geburtsland begrüßen sie gar einen Krieg im Namen des Volkes. Dies geschieht innerhalb politischer Verschiebungen, die gewöhnlich als Flüchtlings- und als Ukraine-Krise bezeichnet werden. Jedoch parallel zu den jüngsten Krisen geschieht fast unbemerkt eine, die ihre Wurzeln in der Postmoderne hat: die Krise der Wahrheit.
Agonie des Realen
Wenn die philosophische Postmoderne eine Botschaft für die Lebenspraxis hatte, dann diese: Du bist nicht das, was du zu sein scheinst, was deine Herkunft, deine Kultur aus dir machen wollen. Die unpersönlichen Mächte der Geschichte wollen dich gestalten. Trotze ihnen! Diese Erkenntnis war eine große Emanzipation, ein weiterer Schritt auf dem Weg, den die Aufklärung vorgezeichnet hatte. Aber die postmoderne Befreiungsgeste scheiterte, als der Wahrheitsbegriff auch in der Politik wegemanzipiert wurde.
Der Begriff der Wahrheit erhielt einen repressiven Unterton. Es begann die Agonie des Realen. Und wenn das gleichnamige Buch Jean Baudrillards dies eigentlich betrauerte, waren wir Leser der Hefte des Merve-Verlags zunächst nur froh darüber. Nicht nur die Wahrheit, selbst die Vorstellung einer Wirklichkeit war uns zu repressiv. Die Geschichte war schließlich an ihr Ende gekommen, also brauchte man keine Wahrheiten mehr. Und die Politik, egal wie unehrlich, hatte die Lüge als Prinzip noch nicht für sich entdeckt.
"Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen." Diese These Friedrich Nietzsches, ursprünglich gegen den Positivismus gerichtet, erlebte in der Postmoderne ein Revival. Doch wenn man Nietzsches Haltung in die politische Praxis überträgt, würde sie lauten: Es zählen nur Lügen und Manipulationen. Und genau so könnte das Credo früherer Medienpopulisten wie Silvio Berlusconi gelautet haben.
Das Privatfernsehen veränderte noch vor dem Internet die Medienlandschaft grundlegend. Sicher war es ein Zugewinn an Pluralität, zugleich aber wurde der Wahrheitsstandard verwässert. Berlusconi machte die Wahrheit stets zum Witz. Die Lügen der Populisten klangen anfangs fast noch lustig, um später, bei Putin, blutig zu werden. Ein müdes Schmunzeln kam über Berlusconis Lippen, als er etwa erzählte, seine minderjährige Gespielin sei die Tochter des ägyptischen Präsidenten. Wer sollte das glauben? Eigentlich niemand, und das stellte einen neuen Grad des politischen Lügens dar. Die Tatsachen wurden auf einmal uninteressant, nur der Machtkampf wurde als real wahrgenommen: Der große Mann wird angegriffen, kontert aber nicht nur erfolgreich, sondern mit Witz und Eleganz. Bravo!
Der postmoderne Pop
Um die Fakten schienen sich jene, die solche Populisten wählten, nicht groß zu scheren. Das ist der postmoderne Pop - Tatsachen nicht von Lügen unterscheiden zu wollen. Weil Tatsachen oft unklar und meist unbequem sind, macht man sich freiwillig zum Untertan eingängiger Lügen. Diese Einstellung ist letztlich für die Inflation politischer Wahrheit verantwortlich, nicht die postmodernen Philosophen des vergangenen Jahrhunderts.
Zu Berlusconis ägyptischem Mädchen gesellten sich ein paar Jahre später Putins "grüne Männchen". Putin bestritt die Anwesenheit russischer Besatzungstruppen auf der Krim und behauptete, es handele sich um Einheimische. Eine grüne Armeeuniform könne sich doch jeder einfach kaufen. Putin machte sich dabei genauso wenig Mühe, glaubhaft zu sein, wie sein Freund Berlusconi. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, kann die Lüge noch so skurril daherkommen.
Der frühe Foucault schrieb noch, die Reduktion des Wissens auf die Macht könne nur eine Karikatur sein. Genau das aber geschieht heute in der Politik, und das ist nicht lustig. Denn nicht die Wahrheit dient der Macht. Umgekehrt, die Unwahrheit erfordert Gewalt. Irgendwann werden plötzlich Riffe im Südchinesischen Meer zu Inseln, oder eine ukrainische Halbinsel wird russisch, und dann kommt schon das Militär ins Spiel.
Heute unterwandert die Lüge gezielt Institutionen, die eigentlich der Wahrheit verpflichtet sind. So leugnete anfangs die ehemalige ARD-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz den russischen Einmarsch auf die Krim. Dann aber gab Putin plötzlich zu, auf der Krim seien "unsere Militärangehörigen" gewesen. Krone-Schmalz allerdings wiederholte auch danach, es habe nie einen Einmarsch der russischen Truppen gegeben. Ihre Hartnäckigkeit ist deswegen bemerkenswert, weil sie verrät, wie wenig Wert eine Medienpersönlichkeit heutzutage auf Fakten legen darf. übrigens schloss Putins nächste und bisher letzte Interpretation der Tatsachen nicht nur ein, dass auf der Krim russische Streitkräfte eingesetzt wurden, sondern dass "wir" diesen "Fakt" nie verheimlicht hätten. Putin hat erfolgreich seine Opponenten verwirrt. Und es ist kein gutes Zeichen, dass auch Krone-Schmalz nach wie vor als Russlandexpertin in deutsche Fernsehshows eingeladen wird.
Der Niedergang politischer Wahrheit äußert sich nicht allein in der Behauptung falscher Tatsachen. Im Februar warf Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer seiner Bundeskanzlerin eine "Herrschaft des Unrechts" in der Flüchtlingsfrage vor. Dann sagte er knapp drei Wochen später, sie "regiert uns hervorragend". Das bedeutet natürlich nicht, dass Seehofer die Unrechtherrschaft als eine hervorragende Regierungsform sieht. Dieser Widerspruch hat jedoch für die Menschen, die er mit der ersten Bemerkung für sich gewinnen wollte, eine ganz andere Bedeutung. Wer Angela Merkel "Rechtsbruch", "Bevormundung" oder "Unrechtsherrschaft" vorwirft, versteht Seehofers "hervorragend" tendenziell so, wie die Anhänger Berlusconis dessen Lüge über die "Tochter Mubaraks" - als eine taktische Lüge, durch die überspitzung noch stärker als solche markiert. Man kann Seehofers Machtinstinkt vertrauen, er wird ein Gespür dafür haben, wie viel Lügen die Politik verträgt.
Bis zur Unkenntlichkeit
Nicht allein Politik und Medien, auch die Wissenschaft kann sich einen solchen Umgang mit den Tatsachen zu eigen machen. Der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski polemisierte in der FAZ gegen Angela Merkels "Wir schaffen das" und schrieb, die Bundeskanzlerin habe noch hinzugefügt, dass Deutschland sich in den nächsten Jahren "bis zur Unkenntlichkeit" verändern werde. Doch dieser Zusatz lässt sich in Merkels Reden schlicht und einfach nicht finden. Er geht offenbar auf Baberowskis eigenes Weltbild zurück, gemäss diesem Einwanderung die Volksgemeinschaft zerstört. Diese scheinbare sprachliche Kleinigkeit ist ein Symptom, doch sie vermochte auch einiges auszulösen. Der angebliche Merkel-Spruch verbreitete sich in fremdenfeindlichen Blogs, als Quasi-Beweis für die Verschwörung der politischen Elite gegen das eigene Volk. Die deutschnationalen Opfer eines "Flüchtlings-Holocausts" fügten eine weitere Lüge hinzu: "Unser Land wird sich bis zur Unkenntlichkeit verändern, aber das macht mir keine Sorgen", soll die "Volksverräterin" Merkel gesagt haben.
Heute ist diese Lüge nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Sollte auch Angela Merkel widerlegen, das je gesagt zu haben, können viele ihrer Gegner erwidern: "Aber das berichtet doch ein Geschichtsprofessor!" Und wenn auch Baberowski den Fehler anerkennt, würden seine Mitstreiter ihn weiter zitieren und sich sicher sein, der Historiker sei einfach der "Moraldiktatur" zum Opfer gefallen. Vor dem Internetzeitalter hätte man lediglich befürchten müssen, dass die Baberowskische "Unkenntlichkeit" bald in Geschichtsbüchern stünde. Heute hat der Spruch sofort eine Realität geschaffen. Er ist bereits Teil digitaler Daten, die unsere Gegenwart für die Zukunft festschreiben. Nicht nur in abstrusen Foren, auch bei Wikipedia gälte Baberowskis Artikel dann als eine felsenfeste Quelle.
Das Medium Internet entwickelt gerade seinen eigenen Umgang mit der Wahrheit - doch sind heute nur erste Ansätze davon erkennbar. Wie immer, wenn sich die Gesellschaft neuen Pluralismus leistet, muss sie erst Schutzmechanismen gegen Manipulationen und Lügen finden.
Massaker ohne Ende
"Die Vergangenheit ist ausgelöscht, das Auslöschen vergessen, die Lüge wurde zur Wahrheit." Dieser Satz George Orwells wird heute oft im US-Wahlkampf von den Demokraten in Bezug auf den Umgang mit Fakten bei den Republikanern zitiert. In Europa kursiert er vor allem in Netzwerken, in denen man auf die "Lügenpresse" schimpft und sich vor einem "europäischen Kalifat" oder vor einer eingebildeten "EUdSSR" fürchtet.
Als ich nach dem Zusammenbruch der echten UdSSR 1994 nach Berlin kam, dachte ich, Orwells "1984" wäre ferne Vergangenheit. Ferne Vergangenheit, aus der sich auch Foucaults "Wut auf die Tatsachen" speiste. Sich den Tatsachen zu verschreiben, führte danach zu einer "Hinnahme der Massaker ohne Ende", wenn man etwa versuchte, einen Völkermord rational zu fassen. So würde man ihn aber einfach nur "sicher und ruhig" machen. Deswegen zog Foucault damals solchen Tatsachen ausdrücklich die Irrationalität vor. Das Irrationale brachte jedoch keine Befreiung. Foucault hat nicht mehr erlebt, wie die politische Macht lernte, irrational zu sein. Die Weltgeschichte fand in den neunziger Jahren mitnichten ihr Ende, und eigentlich war auch nichts anderes zu erwarten. Aber ich habe wirklich nicht damit gerechnet, in einer Gegenwart zu leben, die drauf und dran ist, sich in Orwells Dystopie wiederzuerkennen.
© »Die Krise der Wahrheit« NZZ, 26. April 2016