Kommentar zu »Meinst du, die Russen wollen Krieg?«
«Meinst du, die Russen wollen Krieg?» Das sang eine zutrauliche Baritonstimme ständig im Radio meiner sowjetischen Kindheit. Die Antwort im Lied war «Nein». Und im Gegensatz zu so vielem, was damals bei uns im Radio lief, war dies nicht gelogen. Die Russen wollten in den sechziger Jahren bestimmt keinen Krieg. Heute freuen sich dieselben Menschen und auch ihre Kinder und Enkel fast einstimmig darüber, dass russische Truppen ein Stück Land, die zur Ukraine gehörende Krim, annektiert haben.»
So habe ich das vor neun Jahren aufgeschrieben und damals nicht gemerkt, dass gleich im nächsten Absatz Kriege aufgezählt werden, die "die Russen" angeblich nicht wollten. Das habe ich für die Neufassung nur notdürftig korrigiert, aber dieser Widerspruch braucht einen eigenen Text.
Die Überschrift "Die kleinen Diebe des grossen Sieges" hat die NZZ damals aus meinem Text übernommen, und ich fand sie gelungen. Heute würde ich den Kriegssieg von 1945 nicht mehr so groß schreiben, auch weil er nicht nur ein russischer und nicht nur ein sowjetischer Sieg war. Ich finde, dass meine Sprache in diesem Artikel, in dem ich ausdrücklich gegen den Kult des Krieges argumentiere, von diesem Kult beeinflusst ist. Hier der letzte Absatz in der Fassung von 2014:
Georgi Schukow verbrachte seinen Lebensabend im Exil auf seiner Datscha bei Moskau. Den Kreml-Bürokraten war er ein zu starker Konkurrent, deshalb hielten sie ihn auf Abstand. Joseph Brodsky stellte den Marschall als eine Figur von antiker Grösse dar. Wenn Schukow in der Hölle auf die von ihm geopferten Soldaten träfe, was würde er zu ihnen sagen? Bei Brodsky sagt der Marschall lapidar: «Ich war im Krieg.» Präsident Putin und seine Getreuen wissen nicht mehr, was das bedeutet. Aus der Tragödie des Krieges machen sie eine zynische Farce. Die Propagandamacher und ihre willigen Helfer im Volk tönen: «Wir sind die Erben des grossen Sieges!», doch dabei sind sie nur kleine Diebe des Sieges. Sie schmücken sich mit den Ordensbändchen toter Soldaten, weil sie selbst keine Grösse haben. Man hat Joseph Brodsky im Exil gefragt, warum er denn überhaupt einen Sowjetführer wie Schukow besungen habe, und dieser antwortete: «Dort gibt es einfach nicht viele, über die man überhaupt ein Gedicht schreiben kann.»
Eine freie Erinnerung an den Krieg duldet keine glorifizierende Sprache, und die Formulierung „Tragödie des Krieges“, die auch im offiziellen Narrativ verwendet wurde und wird, ist für mich deshalb nicht verwendbar. Eine neue Erinnerung braucht eine eigene Tragik und eine neue Sprache. Diese Sprache muss auch die sowjetischen Kriegsverbrechen benennen können, während Brodskys Sprache sie nur verschleiert. Я воевал, ich war im Krieg, mit diesem Satz, den der Dichter Schukow in den Mund legt, zeigt er Verständnis für die verbrecherische Kriegsführung von Stalins Marschall. Heute kann ich diesen Satz so nicht stehen lassen. Noch mehr stört er mich, wenn aus russischer Sprechposition mit Verben wie „Krieg führen“ oder „kämpfen“ das bezeichnet wird, was Russland heute in der Ukraine treibt.
Mein Großvater Lasar mit seinem Sohn, meinem Vater Boris
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