Kadaver auf Urlaub

Die Emigration holte mich ein, ohne dass ich einen Fuß vor die Tür gesetzt hätte. Sie kam über mich in Gestalt einer Frau mit grünem Lidschatten, einer langen Zigarette in der Hand und gerümpfter Nase. Das sollte ich sein, der «Emigrant Schumatsky». So karikierte mich eine russische Website, der ein Artikel von mir nicht gefiel. Ein Emigrant ist überheblich, verkommen und zugleich weibisch – dieses Feindbild teilten die Nationalsozialisten mit den Bolschewiken. Ein dekadenter weißer Emigrant nach 1917 oder einer von diesen deutschen Exilanten, über die der Propagandaminister Joseph Goebbels einmal sagte: «Mögen sie noch eine Weile weiter geifern, die Herrschaften in den Pariser und Prager Emigranten-Cafés, ihr Lebensfaden ist abgeschnitten, sie sind Kadaver auf Urlaub.»

 

Madame Solsché

Meinen ersten Emigranten sah ich mit sechs. Er bewohnte mit Frau und Säugling ein Zimmer nicht weit von unserer Moskauer Wohnung entfernt. Als mein Vater und ich ihn damals besuchten, stand er in der Tür nur mit weißem Trägershirt und Unterhose bekleidet und seinem Baby auf dem Arm. Das Zimmer war nicht gelüftet. Auf dem Rückweg erzählte mein Vater, dass der Mann seine Arbeit verloren hatte, weil er ausreisen wollte. Mein Vater hatte ihm ein bisschen Geld gegeben, das dürfe ich aber niemandem erzählen. Ich war mir sicher, so einer wie der würde ich niemals werden.

Allein schon der Wunsch auszuwandern war in meiner Kindheit ein Verbrechen. Gleichzeitig wurden Menschen gegen ihren Willen abgeschoben, wie der Schriftsteller Alexander Solschenizyn. Andere Schriftsteller mussten dann den neuen Landesverräter in Kollektivbriefen verdammen. Ich erinnere mich, wie mein Vater einem Bekannten, der einen von diesen Kollektivbriefen unterschrieb, nicht mehr die Hand geben wollte. Meine Mutter war nicht so rigoros, sie vermutete, der Bekannte oder seine Familie seien bedroht worden. – Der macht nur Karriere, entgegnete mein Vater. Wie eine Reliquie seines Ekels vor dem Regime bewahrte er einen Ausschnitt aus der Satirezeitschrift «Krokodil» auf, in dem Solschenizyn als eine lüsterne «Madame Solsché» dargestellt wurde, die sich in einem Rotlichtlokal prostituiert.

Meine Eltern, wie damals viele Angehörige der Intelligenzija, hätten den Sowjetstaat nie ihre Heimat genannt. Ihre Heimat war die russische Hochkultur, und Russland sahen sie durch die Brille des Dichters Tjutschew: diese ärmlichen Gehöfte, diese kärglichen Gefilde, durch deren demütige Nacktheit jedoch etwas leuchtet, was ein Fremder nicht zu schätzen vermag. Meine Eltern wollten nie ausreisen. Ich selbst wäre später wahrscheinlich doch «abgehauen», wie es damals hieß, doch das Sowjetregime kam mir zuvor und brach zusammen. So zog ich nach Deutschland, wie Deutsche heute in die USA oder die Schweiz gehen. Zwanzig Jahre lang redete ich mir ein, ein «global citizen» zu sein, bis letztes Jahr Putin mir gezeigt hat, dass ich kein Mensch des 21. Jahrhunderts bin. Er zwang mich in ein altes Klischee: Ein verbitterter Emigrant, der mit machtlosem Entsetzen beobachtet, was in seinem Geburtsland passiert.

 

Russische Schandgeschichten

Ein Mann rennt durch den Wald um sein Leben. Ihn jagen zwei andere in einem schwarzen Geländewagen. Der eine rappt: «Knallt die ab, die sagen, sie hauen bald ab.» Die Männer im Musikvideo sind kahlgeschoren, ihre muskulösen Oberkörper stecken in weißen T-Shirts. Der Mann im Wald, der aus Russland «abhauen» will, ist schmächtig, dunkelhaarig, ein «weisser Nigger», wie die Männer im schwarzen Auto singen. Sie schneiden dem Vaterlandsflüchtling den Weg ab, bremsen abrupt. Der Mann am Steuer ist der russische Schriftsteller Sachar Prilepin. Auch ausserhalb Russlands ist er der wohl bekannteste Autor einer Generation, die unter Putin heranwuchs. Prilepin hat eine Band, für die er Texte schreibt und Videoclips wie diesen produziert. Er steigt aus dem Geländewagen, zwischen den Zähnen eine Zigarette, und sieht zu, wie sein Kamerad den gefangenen Emigranten verhaut. Einst hat Prilepin gegen das Regime rebelliert und galt als die Zukunft des russischen Schreibens. Nun ist diese Zukunft eingetreten. Der Schriftsteller fährt den Emigranten in seinem Wagen durch die kargen Wälder und ärmlichen Dörfer seiner Heimat. Doch der Fremde vermag die demütige Schönheit dieser Gehöfte, dieser Gefilde nicht zu schätzen. Prilepin hat ihm einen schwarzen Sack über den Kopf gezogen.

Thomas Mann schrieb über sein Exil, ihm «klangen die Ohren von Schandgeschichten, die täglich aus dem verlorenen, verwildernden, wildfremd gewordenen Lande herüberdrangen». Es liegt mir fern, seine Geschichte mit meiner gleichzustellen, gleich ist allein die wütende Scham. Auch drängen die Schandgeschichten über die russische Kulturschicht, die ja meine Heimat war, nicht täglich, stündlich über die digitalen Netze zu mir. Die Schriftstellerin Tatjana Tolstaja aus einer berühmten Literatenfamilie schreibt in einem sozialen Netzwerk: «Wenn es stimmt, dass russische Rotarmisten Millionen deutscher Frauen vergewaltigt haben, wie man es uns ja erzählt, dann kann man davon ausgehen, dass etwa die Hälfte dieser Deutschen Kinder bekommen haben. Heißt das, dass die Bevölkerung in den eroberten Gebieten heute russisch und nicht deutsch ist?»

Einst versprach Tolstaja, das neue Wort der russischen Literatur zu werden. Nun ist dieses Wort gesprochen, und ein Leser kommentiert es so: «Also dann ist Deutschland Teil der russischen Welt.» Er meint Putins verlorengegangene russische Welt, die es zurückzuerobern gilt, der bereits Tausende Menschen in der Ukraine zum Opfer gefallen sind und die sich auch in die russische Intelligenzija hineingefressen hat. Tolstaja war immer Patriotin Russlands, aber eine Putinistin war sie nie. Man könnte Putin gratulieren. Der russische Patriotismus, der sich einst ins Gewand einer romantischen Liebe zu heimatlichen Gefilden und Gehöften hüllte, zeigt sich heute offen als Liebe zur Gewalt.

Die Gewalt bricht sogar dort durch, wo ich es am wenigsten erwartet hätte. Selbst viele Gegner Putins sind Teil dieser Welt der Gewalt geworden. Eine Moskauer Verlegerin von feinen Büchern hetzte neulich gegen eine junge Journalistin, eine Zynikerin aus der Generation Putin: «Wie ein alter Freund, einer der besten lebenden Dichter, in solchen Fällen sagt: Lasst uns sie zu sechst durchf . . . en!» Vor ein, zwei Jahren hatte ich Leute wie diese Verlegerin noch für eine Alternative zum kollektiven Putin gehalten. So hört sich diese Alternative heute an. Die Leser, russische Dichter und Denker, pflichten der Verlegerin bei, ja, die junge Journalistin habe eine Gruppenvergewaltigung verdient, sie kommentierten: «Bin dabei» oder «Machen wir's zu siebt».


Drei lustige Panzersoldaten

Als ich in den Neunzigern nach Deutschland zog, war die Sowjetunion schon Jahre tot. In einer Silvesternacht bald nach meinem Umzug tauchte ein Moskauer Literaturprofessor mit seinen Studenten in meiner Kreuzberger Wohnung auf. Wie im Klischee über die Russen, die Wodka trinken und dazu im Chor singen, sangen wir zusammen Lieder aus unserer sowjetischen Kindheit: «Der Krieger soll die heimatliche Erde hüten, und Katjuscha wird ihre Liebe bewahren», und «Drei Panzerfahrer, drei lustige Freunde». Der nostalgische Militarismus war süß. Die drei lustigen Panzerfahrer waren kuschelig, und auch der erste Krieg, den Moskau nach dem Zerfall der Sowjetunion in Tschetschenien begann, kam uns wie die letzte Zuckung des verstorbenen Reiches vor.

Der Schriftsteller Wladimir Sorokin sagte unlängst, dass Russland die Leiche der Sowjetunion nicht vergraben habe, wie es Deutschland mit dem nationalsozialistischen Leichnam getan hat. Das stimmt, wir trugen diese fauligen Überreste in den Neunzigern mit uns herum, konnten uns von «Katjuscha» und «Drei Panzerfahrer» nicht trennen. Kein Wunder, dass sie wieder in ihre Panzer stiegen und die Ukraine überrollten.

In der Silvesternacht in Kreuzberg sang uns der Literaturprofessor auch ein ukrainisches Lied. Er war in Czernowitz geboren, wo auch Paul Celan herkam, und erzählte uns von der glorreichen k. u. k. Vergangenheit. Als der Kreml vor einem Jahr die ukrainische Krim annektierte, sah ich den Namen dieses Bekannten unter dem Kollektivbrief zur Unterstützung von Putins «Ukraine-Politik». Nun muss ich, wie ein Leben zuvor meine Eltern, entscheiden, ob ich diesem Professor die Hand geben kann. Er leitet heute ein staatliches Literaturmuseum in Moskau. Haben sie ihn erpresst? Möchte er einfach nur Karriere machen? Oder weiß er, dass die Zukunft Russlands noch schrecklicher ist, als ich aus der Ferne fürchte? Dass keine Zeiten mehr kommen, in denen er sich für seine Unterschrift schämen muss?

Der Komponist Dmitri Schostakowitsch, der auch solche Kollektivbriefe unterschreiben musste, sagte damals einem Freund meiner Familie über die Sowjetunion, die er hasste und fürchtete: «Das ist unser Tausendjähriges Reich.» Schostakowitsch sollte recht behalten, zumindest was ihn selbst betraf. Der Komponist war fünfzehn Jahre tot, als das Sowjetreich endlich zusammenbrach. – Der sowjetische Kadaver ging lediglich ein Jahrzehnt auf Urlaub, dann kam er zurück.

Karl Marx hat nie gesagt, die Geschichte wiederhole sich nicht. Er schrieb: «Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.» Natürlich ist Putin kein zweiter Hitler. Er ist eine postmoderne Führerfigur, eine triviale Collage aus Stalin und Goebbels. Seine Annexion der Krim ist eher eine Persiflage des Anschlusses des Sudetenlands. Und die russische Welt, wie gewaltgeil sie auch sein mag, ist letztlich nur eine Farce. Mir aber ist gar nicht zum Lachen zumute.

Denn das, was einen russischen Emigranten frustriert, ist gar nicht einmal Putin allein. Putin haben wir schon vor über zehn Jahren verstanden. Was den Emigranten wirklich verzweifeln lässt, sind die Putin-Versteher im Westen. Menschen, die so viel Akzeptanz für eine banale Despotie haben oder sich sogar nach ihr sehnen.


Die Versteher

Die Emigranten aus Nazideutschland sahen mit einer Mischung aus Ekel und Unglauben zu, wie die Hitler-Versteher in ihren Gastländern immer neue Rechtfertigungen für die Nazis fanden. In den USA der dreißiger Jahre hatte Nazideutschland viele Gegner, aber auch viele Unterstützer. Von denen, die «business as usual» mit Hitler weiterführen wollten, von Appeasement-Politikern bis hin zu weltanschaulichen Sympathisanten und den Freunden alles Deutschen, die auch die Nationalsozialisten umarmten. Nazideutschland beeinflusste damals sehr erfolgreich Teile der amerikanischen Gesellschaft, der Presse und der Filmindustrie.

Tausende emigrierte deutsche Filmleute mussten zusehen, wie ihre Bosse mit den Nazis zusammenarbeiteten. Amerikanische Akademiker wurden durch lukrative Hanfstaengl-Stipendien nach Deutschland gelockt. Die Industrie machte Geschäfte mit Hitler. Einflussreiche Antisemiten wie Henry Ford und Charles Lindbergh ließen sich mit Großkreuzen des Deutschen Adlerordens auszeichnen.

In einem seiner späten Romane entwarf Philip Roth eine alternative Geschichte der USA, in der Lindbergh anstelle Roosevelts Präsident wird. Zwar kennt die Geschichte genauso wenig Alternativen, wie sie Wiederholungen kennt. Sehr realistisch hält Roth jedoch die Ängste fest, die Juden oder Emigranten ausstehen mussten, bevor sich die USA entschieden, ob sie für oder gegen Hitler sind. Die Gegner dieses freiheitlichen Amerika, das Roths ideelle politische Heimat war, waren nicht allein die Nazis, sondern vor allem die einheimischen Naziversteher.

«Man atmet auf, wenn man aus dieser drückenden Atmosphäre einer verfälschten Demokratie in die strenge Luft der Sowjet-Union kommt», schrieb Lion Feuchtwanger 1937, auf dem Höhepunkt von Stalins Großem Terror. Am Vorabend des Hitler-Stalin-Paktes, der den Weltkrieg herbeiführte, redete sich Feuchtwanger ein, dass allein Stalin den «Ausbruch des großen faschistischen Krieges» verhindern kann. Bei Stalin suchte er Schutz vor Hitler, ähnlich wie die Versteher Putins bei ihm Schutz vor dem suchen, was sie für das Böse unserer Zeit halten – etwa vor Washington.

Feuchtwanger war nicht der einzige und auch nicht der schlimmste von den damaligen Stalin-Verstehern, welche die russischen weißen Emigranten wie Vladimir Nabokov zur Verzweiflung trieben. Auch mir tat es regelrecht weh, im noch sowjetischen Moskau Feuchtwangers Stalin-Lob zu lesen. Später in den USA wendet sich für Feuchtwanger aber das Blatt, nun steckt er selbst richtig in den Emigrantenschuhen und ist für die amerikanischen Hitler-Versteher ein kriegstreibender Jude. Wie Feuchtwanger sind viele heutige Putin-Versteher keinesfalls Menschen ohne Verstand und Moral. Und das macht ihren Zuspruch zur Gewaltherrschaft erst gefährlich.

Die Vorstellung, Putin habe Russland einfach ins Stalin-Reich zurückverwandelt, ist naiv. Das, was in meinem Geburtsland entsteht, hat noch keinen Namen. Dagegen zeichnet sich immer klarer ab, in was die Putin-Versteher unsere Welt gerne verwandeln würden. In etwas, was ihnen an Putins Russland gefällt. Es gibt Politiker, die gerne wie Putin regieren würden, und es gibt die Russland liebenden Massen, die von moderner Demokratie verdrossen sind. Hatte Putins Freund und Ex-Bundeskanzler Schröder nicht gesagt, zum Regieren brauche er «Bild», «BamS» und Glotze? Von Putins politischer Maschinerie des Medienpopulismus können die Putin-Versteher noch einiges lernen. Sie ist fortschrittlicher als die, die Berlusconi in Italien betrieb oder Orban heute in Ungarn aufbaut. Der Emigrant in mir spürt, dass er die Zukunft, die uns die Freunde Russlands bereiten könnten, bereits kennt. Sie riecht wie die Vergangenheit, die er hinter sich gelassen zu haben glaubte.

Es ist nicht allein Putin, der mich und uns alle im vergangenen Jahrhundert der Weltkriege und Diktaturen gefangen hält. Gäbe es nicht die Putin-Versteher vor meiner Haustür, würde ich das P-Wort sicher nicht so oft in den Mund nehmen. Auch sie sind ein Symptom unserer Zeit, die dem gewalttätigen vergangenen Jahrhundert immer ähnlicher wird. Für diese späte Einsicht könnte man sogar fairerweise sagen: Danke, Putin.

 

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© »Kadaver auf Urlaub« NZZ, 24. August 2015 

Published on  February 15th, 2022

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