Rettet Russland
Mitte März letzten Jahres, nur Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, stand die russische Schriftstellerin Maria Stepanowa in einer langen Schlange am Moskauer Flughafen Domodedowo. In solchen Schlangen warteten damals Ukrainer, die über Russland vor dem Krieg geflohen waren, und Russen, die diesen Krieg ablehnten, unter ihnen auch Freunde von mir. Stepanowa zählte «Tiertransportboxen: Hunde, Katzen, mehrere Vögel – die Leute planten nicht, bald zurückzukommen.»
Auf meinem Bildschirm in Berlin wirkten diese Schlangen unwirklich, als wäre es ein geschmackloses Reenactment: Wie nach der Machtübernahme der Bolschewiki vor hundert Jahren verlassen die Besten das Land, das in Gewalt versinkt. Kann sich Geschichte wiederholen? Höchstens als Farce, hatte ich immer gedacht. Aber diese Bilder waren alles, nur nicht komisch. Der programmatische Essay von Maria Stepanowa, der unlängst im «FAZ»-Feuilleton erschien, hat mir gezeigt: Alles wiederholt sich, wenn man es nur zulässt.
Maria Stepanowa ist vielfach ausgezeichnete Romanautorin und Lyrikerin, sie war Herausgeberin von Colta.ru, dem vielleicht aufregendsten intellektuellen Portal Russlands, das am Anfang des Krieges verboten wurde. Sie ist weltweit als Protagonistin der russischen Hochkultur anerkannt und gilt auch als Stimme eines Russlands, das Putin und den Krieg ablehnt.
In ihrem Essay «Die russische Frage» sucht die Autorin nach einem Weg, diese Hochkultur und dieses Russland über die «gegenwärtige Katastrophe» hinweg zu retten: «Das getane Böse [. . .] muss ausgeglichen und der Ort, von dem es ausgeht, wieder bewohnbar gemacht werden.» Ich schreibe jetzt nicht darüber, ob es heute wirklich angebracht ist, über die Rettung Russlands nachzudenken. Das Russland, das Stepanowa beschreibt, hat Rettung jedenfalls nicht verdient.
«Unser Sieg»
In Moskau hätte sie, schreibt Maria Stepanowa, «ohne weiteres in der Metro oder Tram neben einem von denen [. . .] sitzen können, die heute in der Ukraine kämpfen und dort unschuldige Menschen töten. Auch mit ihnen verband und verbindet mich also ein gemeinsames Wir.» Wer heute auf unschuldige ukrainische Soldaten schiesst, wer dort Zivilisten ausraubt, vergewaltigt, ermordet, der teilt mit ihr, sagt die Autorin, eine Identität. Im Zentrum dieses Wir steht der Krieg. Nicht der Krieg gegen die Ukraine, Georgien, Tschetschenien, Afghanistan, die Tschechoslowakei oder Ungarn. Maria Stepanowa meint, ohne ihn so zu nennen, den Grossen Vaterländischen Krieg.
So hiess schon in ihrer und meiner Kindheit der Abschnitt des Zweiten Weltkriegs nach dem Juni 1941, als Nazideutschland nicht mehr Verbündeter, sondern Gegner der Sowjetunion war. Die Staatspropaganda hämmerte uns ein, unser Volk sei und bleibe «ein Sieger». Die Parteibonzen und Lehrer sprachen von dem Leid und dem Tod «von Millionen», von einer «unheilbaren Wunde», die dieser Krieg dem «lebendigen Körper des Landes» zugefügt habe. Die sowjetischen Befehlshaber hatten ihre Soldaten tatsächlich millionenfach verheizt, eine Kriegsführung, die noch heute in der Ukraine angewendet wird. Alle Opfer hätten dennoch «einen Sinn», nämlich «unseren Sieg».
Krieg ist Sieg
Der staatliche Siegeskult wurde erst zwanzig Jahre nach Kriegsende eingeführt, er sollte der Bevölkerung ein gemeinsames Wir, eine angeblich «von allen gemeinsam durchlebte Erfahrung» geben. Das hat funktioniert. Der Dissident Andrei Sacharow hat diese Manipulation bereits zu Sowjetzeiten erkannt, er fand sie abstossend und gefährlich. Dennoch spricht Wladimir Putin immer noch von seinem «Sieger»-Volk, er sagt, «wir» hätten es «in den Genen».
Maria Stepanowa schreibt über diesen russischen Sieg in einer Sprache, die ich seit meiner Kindheit kenne. Alle Ausdrücke, die oben in Anführungszeichen stehen, habe ich wörtlich aus ihrem Essay übernommen, ausser Putins O-Ton. Mit diesen Zitaten könnte ich für Putin eine Rede schreiben, für die Militärparade am kommenden 9. Mai, dem «Tag des Sieges».
Eine Skepsis gegenüber der Obrigkeit war in der Sowjetunion die Norm, doch die Jahrzehnte der Kriegspropaganda blieben nicht ohne Folgen. Deren jüngste ist der Krieg gegen die Ukraine, aber angefangen hat es zum Beispiel mit Schlafliedern, erinnert sich Maria Stepanowa. Auch mir sang meine Mutter «Dunkelste Nacht, nur das Pfeifen der Kugeln von fern» vor, auch ich lauschte mit den anderen Kindern aus dem Dorf, in dem wir den Sommer verbrachten, einem Invaliden, der Kriegslieder zur Ziehharmonika sang.
Krieg und Sieg sind Synonyme geworden. In meiner ganz normalen Moskauer Schulklasse waren viele von dieser Gehirnwäsche genervt, aber kaum einer wagte es, auch nur einen Witz über die mit Medaillen behängten Veteranen zu machen, die zu uns kamen, um dem Staatskult einen menschlichen Anstrich zu geben. Maria Stepanowa empfindet das Siegesnarrativ als einen Knoten, der das heutige russische Wir zusammenhält. Sie schliesst sich selbst mit ein, und vermutlich deswegen lese ich in ihrem Programmtext nicht darüber, dass dieser Knoten eigentlich gelöst werden sollte. Solange das nicht geschieht, bleibt die militaristische russische Identität gefährlich – für andere wie für sich selbst.
Es ist bitter, zu lesen, wie die Autorin den «Sieg» als ein «Faktum» und das russische Narrativ als eine «gemeinsame Erfahrung» bezeichnet. Die Erfahrung ist keineswegs gemeinsam, und nicht jeder hat «seinen Anteil» daran. Nicht die Tschetschenen oder Russlanddeutschen, die während des Krieges als «Verrätervölker» deportiert wurden, auch nicht die Juden, die im sowjetischen Opfernarrativ unerwähnt blieben und im «Sowjetmenschen» aufgehen sollten. All das und noch viel mehr lässt sich aus der Position des russischen Wir und in seiner Sprache nicht aufarbeiten.
Das russische Wir
Ich gehe von der Schule nach Hause, ich bin zehn Jahre alt, es ist Winter, ich habe meinen Mantel nicht zugeknöpft, damit jeder sehen kann, was ich darunter trage: ein knallrotes Halstuch der Lenin-Pioniere. Das war das letzte Mal, dass ich mich als Teil eines Wir fühlte. Später fanden wir – meine Mitschüler und ich – es sogar cool, uns von den staatlichen Ritualen fernzuhalten. Aber wer sich absonderte und erwischt wurde, musste sich fragen lassen, wieso man sich so «verzweifelt» dagegen sträubte, ob man denn kein «Sowjetmensch» sein wolle. Als ich solche Töne bei Maria Stepanowa hörte, wusste ich, ich muss darüber schreiben, das heisst dagegen anschreiben.
Die Schriftstellerin hat sich bis vor kurzem als russisch oder wegen ihrer Herkunft als russisch-jüdisch bezeichnen lassen, sie wollte sich nicht festlegen. Nun beharrt sie auf ihrer Identität: «Heute antworte ich auf die Frage, was für eine Schriftstellerin ich bin: eine russische.» In ihr russisches Wir schliesst Stepanowa alle Menschen ein, «die durch Geburt, Wohnort, Sprache, familiäre Tradition [. . .] mit Russland verbunden sind», auch alle, die Russland lieben, alle, die es hassen. Ich will mir nicht vorstellen, wie sich dieses Manifest aus der ukrainischen Perspektive liest. Vor dem «neuen Wir» gibt es kein Entrinnen, auch nicht für Menschen, die «bisweilen verzweifelt auf ihrer Nichtzugehörigkeit bestehen».
Das Beharren auf der eigenen Identität ist heute Mainstream, aber keine auch noch so identitäre Bewegung zwingt sich anderen auf. Was das russische Wir vollführt, ist die koloniale Geste in Bestform. Der Begriff des Kolonialen, der heute so populär ist, passt auch ohne die Vorsilbe «post-» perfekt auf Russland, seinen Krieg und seine Identität, wie Stepanowa sie darstellt.
Das fällt nicht sofort auf, vielleicht der Autorin selbst nicht, denn ihr Narrativ ist von einem unverstellten Gefühl des Schmerzes getränkt. Die Bindung an Russland tue «einfach nur weh». Dieser Schmerz ist real, und er ist nicht neu. Dostojewski war nicht der Erste, der diesen Schmerz zum Markenzeichen des Russischen machte. Er sprach auch von einer «Allweltlichkeit» des Russischen, und Putin war nicht der Erste, der diese Allweltlichkeit – Stepanowa beschreibt sie als «ufer- und grenzenlos» – ins Politische übertragen hat.
Der «Grossrusse» besass nach Dostojewski die Fähigkeit, die ganze Welt in seinen Geist aufzunehmen, und der grossrussische Staat eroberte seine Nachbarn und versklavte die eigenen Untertanen. Nach aussen hat er Länder kolonisiert und nach innen Menschen. So ist auch Putins Wir konstruiert, seine «Russische Welt», deren «Grenzen nirgendwo enden». In dieses russische Wir können alle einverleibt werden. Mit Gewalt, wenn sie es wagen, «verzweifelt» auf ihrer Nichtzugehörigkeit zu bestehen. Ich will nicht pathetisch klingen, aber ich bestehe trotzdem darauf.
Russische Niederlage
Die militärische Niederlage Russlands ist der einzige Weg in eine gewaltfreie Zukunft für die Ukraine, für die Welt und auch für die Menschen in Russland. Darum geht es jetzt, nicht um die Zukunft des Russischen oder der russischen Hochkultur. Eines Tages, so formuliert es Stepanowa sehr schön, wird vielleicht «das Stigma, das schmerzhafte Zeichen der kollektiven Mittäterschaft [. . .] zu dem Punkt, an dem der Weg von einem blinden ‹Wir› zu einer Gesellschaft der sehenden ‹Ichs› beginnt».
Dann fügt die russische Schriftstellerin einen kurzen Satz hinzu, den letzten in ihrem programmatischen Essay: «Bewerkstelligen lässt sich das nur von innen.» In diesem Inneren scheint sie sich selbst zu sehen, die russische Kultur und das russische Wir. Sie nennt es neu, auch wenn dieses Wir immer noch von seinem grossen Sieg, seinem grossen Leid und seiner Allweltlichkeit besessen ist. Es ist erschreckend, dass selbst der Autorin von «Nach dem Gedächtnis» eine Sprache fehlt, um den russischen Siegeswahn jenseits der Propagandafloskeln zu reflektieren. Ohne einen Bruch mit sich selbst kann in Russland nur das entstehen, was nach allen historischen Umbrüchen, Revolutionen und Restaurationen immer wieder auferstanden ist: ein mörderisches Wir.
© »Rettet Russland! Aber wie?« Neue Zürcher Zeitung, 18. Februar 2023