Silvester bei Stalin. Auszug aus dem ersten Kapitel
Es war der 31. Dezember 1937. Die Familie verbrachte die Feiertage in einem Ferienheim für hochgestellte Parteifunktionäre in Morosowka. Alle warteten auf Boris Sacharowitsch Schumatsky. Mein Vater, neun Monate alt, schlief draußen in der Kälte. Boris Sacharowitsch verbrachte immer viel Zeit mit seinem kleinen Enkel, aber an diesem Abend wurde er durch dringende Geschäfte in Moskau aufgehalten. Er kam erst am späten Nachmittag und spielte mit dem Enkel auf dem Balkon, als das Telefon klingelte. Stalins Privatsekretär Poskrjobyschew war am Apparat und sagte: "Genosse Stalin bittet Sie, zur Silvesterfeier in den Kreml zu kommen."
Boris Sacharowitch antwortete, daß er nicht kommen könne, daß er seine Familie lange nicht gesehen habe und dieses Familienfest zu Hause verbringen wolle - und legte auf. Seine Frau war fassungslos.
"Weißt du, was du da machst?" fragte sie. "Es ist doch Stalin!" Es klingelte gleich noch einmal.
"Der Chef ärgert sich", meldete Poskrjobyschew, und ohne einen weiteren Widerspruch abzuwarten sagte er, daß der Wagen unterwegs sei, um Schumatsky abzuholen. Vielleicht weigerte sich Boris Sacharowitsch auch darum so hartnäckig, weil er wußte, daß gegen ihn eine Untersuchung lief und schon viele Leute unter Druck gesetzt und gefoltert worden waren, um das nötige Beweismaterial gegen ihn zu liefern. Trotzdem mußte er fahren.
Im Kremlpalast war der Tisch für das Festmahl gedeckt. Bei Stalin gab es immer verschiede kalte Vorspeisen, roten und schwarzen Kaviar, Champagner, georgischen Wein und natürlich russischen Wodka. Boris Sacharowitsch war Abstinenzler. Die traditionelle russische Sauferei mochte er überhaupt nicht. Man wußte und respektierte das; bei den Parteifeiern sah man es ihm nach, daß er Mineralwasser trank. Nach russischem Brauch bringt man in der Silvesternacht den ersten Toast auf das alte Jahr aus. Das Jahr 1937, der 20. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, war auch der Höhepunkt des stalinschen Großen Terrors, ein doppelter Anlaß also, es Stalins Jahr zu nennen und auf sein Wohl zu trinken. Schumatsky stieß wie immer mit seinem Glas Mineralwasser an. Dabei zögerte er, denn in Georgien, wo Stalin herkam, ist es eine Beleidigung und ein schlechtes Omen, nur mit Wasser anzustoßen. Stalin achtete auf solche Dinge. Er sagte: "Boris, du hast anscheinend keine Lust, auf mein Wohl zu trinken."
"Koba, du weißt doch, daß ich nicht trinke", antwortete Boris Sacharowitsch. Er war einer der wenigen Bolschewiki, die Stalin mit seinem Parteinamen Kóba anredeten. Er duzte Stalin seit der gemeinsamen Arbeit in Petrograd kurz vor der Oktoberrevolution. Schumatsky bestand damals darauf, nach Sibirien versetzt zu werden, weil er mit Stalin nicht arbeiten konnte. Später, im Jahr 1921, als Stalin Volkskommissar für nationale Angelegenheiten war und es ablehnte, dem Volk der Burjaten Autonomie zu gewähren, konnte sich Schumatsky in dieser Frage gegen ihn durchsetzen.
Mein Urgroßvater wurde als Sohn einer jüdischen Familie in Werchneudinsk, heute Ulan-Ude, in Burjatien, geboren. Boris Sacharowitsch war einer der ersten sibirischen Bolschewiki und später einer der wichtigsten Revolutionsführer in Sibirien. Er überzeugte Lenin, daß seine ehemaligen Landsleute in Burjatien ihre eigene Republik verdienten, und Stalin hatte keine andere Wahl, als eine burjatische Autonomie zu schaffen. Der Sieg über Stalin kostete aber Schumatsky seine Partei-Karriere. Er wurde als Botschafter in den Iran - der bis 1934 den europäischen Namen Persien trug - geschickt. Es war eine Art politisches Exil. Als Schumatsky nach Rußland zurückkehrte, übertrug man ihm eine Zeitlang eher belanglose Parteiaufgaben, bis er schließlich seinen letzten Posten bekam, in gefährlicher Nähe zu seinem früheren Genossen Koba.
Stalin vergaß keine seiner Niederlagen und er duldete keinen Widerspruch, auch nicht in der festlichen Atmosphäre der Silvesternacht. Der Konflikt brach offen aus, als er Schumatsky erneut zum Trinken aufforderte.
"Allen haben wir's beigebracht", sagte Stalin, "nur dir nicht. Willst du vielleicht besser sein als andere?"
"Mir kann man so was nicht beibringen", erwiderte Boris Sacharowitsch.
"Wir haben schon bessere als dich gebogen und kleingekriegt", drohte Stalin.
"Man kann mich nicht biegen, man kann mich nur brechen."
"Dann werden wir dich eben brechen... Also, Genossen, nun laßt uns den Abend genießen."